Seit fünf Jahrzehnten prägt Timm Rautert den Blick auf Fotografie und ihre Möglichkeiten und Grenzen. Seine 1968 begonnene und längst als wegweisend verstandene Serie Bildanalytische Photographie gilt als radikale Auseinandersetzung mit der grundlegenden Grammatik des Mediums. Rautert löste sich früh von der Vorstellung der Fotografie als rein realitätsabbildende Praxis und ermöglichte so eine Sichtbarmachung von Inszenierungen. Seine erste Einzelausstellung in der Galerie Nordenhake und seine zugleich erste in Berlin stellt den bedeutenden deutschen Fotografen mit zwei aktuellen Serien und einer Rauminstallation sowie einigen zentralen Arbeiten aus den 1970ern umfassender vor.
In der Serie weltraum (2014/2015) macht Rautert den Raum selbst zum Protagonisten. Seine Fotografien lassen uns durch ein Gebäude ohne Menschen streifen, vorbei an opulenten bis nüchternen Konferenzsälen und Besprechungsräumen sowie monumentalen Treppenaufgängen. Zugleich blicken wir auf einen Ort wechselvoller Bedeutung: Der heutige Sitz der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation (FAO) der UN in Rom war ursprünglich als italienische Kolonialverwaltung konzipiert. Mit dem Eintritt Italiens in den Zweiten Weltkrieg wurde der Bau unterbrochen, um in den 1950er-Jahren, nun als Sitz der FAO, fertiggestellt zu werden.
Der Künstler macht mit Weltraum nicht nur die widersprüchliche Geschichte des historisch aufgeladenen Gebäudes zum Thema, sondern auch die in der Architektur angelegten Strategien der Selbstdarstellung. In faschistischer Bauweise errichtet, wurden die einzelnen Räume später von den Mitgliedstaaten der ältesten und größten Sonderorganisation der UN individuell ausgestaltet. Durch die Dokumentation dieser nationalen Inszenierungen trifft Rautert auch eine grundlegende Aussage über den Charakter der Fotografie: Wie schon in seinen bildanalytischen Arbeiten zeigt er, wie Realität durch fotografische Mittel geformt und vermittelt wird. Er verhandelt so die Reflexion über die Konstruktion von Nationen, Geschichte und Identität als ein dem Medium inhärentes Thema.
In der Serie Manhattan mirror (2012) wird die Architektur ebenfalls zum zentralen Akteur. Menschen sind sichtbar, jedoch niemals im Zentrum der Darstellung, wodurch sie wie Symbole großstädtischer Geschäftigkeit wirken. Rautert zeigt die Stadt durch ihre Reflexionen: Die Wolkenkratzer von New York, jener Metropole, die schon früh eine zentrale Rolle im Schaffen des Künstlers einnahm, werden zu collagierten Versatzstücken einer opaken, entfremdeten Stadt. Diese Perspektive eröffnet auch kritische Interpretationen urbaner Veränderungen. Die Bilder sind gruppiert und teilweise mit Spiegeln und Kunststeinen auf Regalen angeordnet, und stellen so einen Rückbezug auf die dargestellte Architektur und die Betrachtenden her.
Die Installation Vier spiegel und ein stein (2024) besteht aus einem einzelnen Stein, der in der Raummitte positioniert und von vier Spiegeln und ihren Abbildungen umgeben wird. Während der Stein in den realen Spiegeln erscheint, verschwindet er auf den Fotos. Die Oberfläche der fotografierten Spiegel wirkt wie eine gleichmäßige, monochrome Fläche, die es nicht vermag, die Welt zu reflektieren. Die Installation nimmt Bezug auf ein Zitat aus Malcolm Lowrys Roman Unter dem vulkan: „Er hätte gerne einen Spiegel gehabt, um sich diese Frage zu stellen. Aber hier war kein Spiegel. Nichts als Stein.“ Wie auch schon in Manhattan Mirror schafft Rautert eine spannungsreiche, fast poststrukturalistische Gegenüberstellung des Dargestellten mit dem Darstellenden, dem Konstrukt und dem Konstruierenden, um die Fotografie als Vermittlerin zwischen diesen Kategorien zu denken.
Schon in der frühen Bildanalytische Photographie (1968–1974) oder der in Auszügen ausgestellten Serie Deutsche in uniform (1974), in der er verschiedene Berufsgruppen in ihrer identitätsstiftenden Kleidung darstellt, ist die Fotografie für Rautert ein intellektueller Vorgang. Sie befragt das Verhältnis zwischen Dargestelltem und Realität und macht doch kritische Aussagen über unsere Gegenwart. Die Faszination von Rauterts Arbeit liegt in der Vielfalt, mit der er die Spiegelungen fragmentarischer Realität sichtbar macht, ohne jemals zu einer einzelnen, abschließenden Wahrheit zu gelangen.