In der letzten Aprilwoche veröffentlichte Emma, das Zentralorgan des deutschen Feminismus, einen Offenen Brief an Kanzler Olaf Scholz, unterzeichnet von 28 Geistesschaffenden. Unter diesen sind überraschenderweise nur sieben Frauen und wenige unter 70, aber kurioserweise einer mit der Berufsbezeichnung „Intellektueller.“1 Strotzende Lebensweisheit also oder gutmenschliche Selbstbeweihräucherung? Dies ist keine schrullige Frage. Der Brief wurde innerhalb einer Woche von mehr als 200.000 Menschen unterschrieben.2 Ein wohl unbeabsichtigter Nebeneffekt des Briefes ist, dass er eine breite Debatte entfacht, Gedanken sortiert und Klarheit geschaffen hat.

Bundeskanzler Scholz wird ersucht, „weder direkt noch indirekt, weitere schwere Waffen an die Ukraine liefern … und alles dazu beizutragen, dass es so schnell wie möglich zu einem Waffenstillstand kommen kann; zu einem Kompromiss, den beide Seiten akzeptieren können.“ Gewarnt wird, dass „die Lieferung großer Mengen schwerer Waffen … Deutschland selbst zur Kriegspartei machen“ könnte und „ein manifestes Risiko der Eskalation … zu einem atomaren Konflikt“ bedeuten würde. „Die zweite Grenzlinie ist das Maß an Zerstörung und menschlichem Leid unter der ukrainischen Zivilbevölkerung. Selbst der berechtigte Widerstand gegen einen Aggressor steht dazu irgendwann in einem unerträglichen Missverhältnis.“ Atemberaubend arrogant ist es einerseits, als Ausländer über den Verlauf dieser Grenzlinien entscheiden zu wollen, und mächtig taktlos andererseits, den Ukrainern zu empfehlen, sie sollten sich tunlichst dem kriegsverbrecherischen Aggressor fügen. Beides erinnert an den Rat, die eben vergewaltigte Frau sollte das Beste aus einer unvermeidlichen Situation machen und sich um Himmels Willen nicht wehren.

Mit welcher Berechtigung maßen sich deutsche Intellektuelle an zu entscheiden, wann die Zerstörung und das Leid für die Ukrainer unerträglich ist? Auch ist die unterstellte Äquivalenz (“beide Seiten”) entlarvend, hat doch Putin einen unprovozierten Kolonial- nein Vernichtungskrieg angefangen, welcher der Ukraine überhaupt ihre Existenzberechtigung abspricht, welcher die ukrainische Zivilbevölkerung bewusst terrorisiert und welcher schon sehr in die Nähe des Völkermords kommt. Sein imperialistischer, mit großrussisch-orthodoxer Religiosität unterlegter Faschismus ist nicht etwas, auf das Scholz – oder der Westen – konstruktiv reagieren kann, weil es die Mission von Putins "heiligem" Russland ist, den dekadenten Westen zu besiegen, die Ukraine zu entnazifizieren und den Donbass zu befreien.3

Und letztlich ist es Quatsch, vom deutschen Bundeskanzler zu verlangen „alles dazu beizutragen, dass es so schnell wie möglich zu einem Waffenstillstand kommen kann; zu einem Kompromiss, den beide Seiten akzeptieren können.“ Die Waffen werden ruhen wenn Putin es anordnet, und das wird wohl nicht vor einer militärischen Pattsituation, wenn nicht Niederlage sein, d.h. wenn der Angreifer auf die Linie vom 23. Februar zurückgedrängt wurde. Auch liegt die Entscheidung darüber, wo die Grenze des faktischen Kriegseintritts Deutschlands oder des Westens überschritten ist (wie schwer die Panzer noch sein dürfen) bei Putin. Scholz spielt hier keine Rolle.

Klar ist, dass es die russischen Aggressions- und Expansionspläne begünstigt, wenn der Ukraine nicht mit allen Mitteln zu geholfen wird, sich effektiv zu verteidigen. Klar ist auch dass, unter Gesichtspunkten des internationales Rechts – von den offiziellen russischen Kriegszielen ganz zu schweigen – es keinen Kompromiss geben kann, weil Putin nichts weniger akzeptieren wird als die Zerstörung des ukrainischen Staates und der ukrainischen Nation. Niemand kann wissen, wann Putin genug haben wird, was zu einer Position führt, die jener der Emmaner diametral entgegensteht: Der Westen müsste mit Putin und seinem Regime so umgehen wie es Churchill mit Hitler gehalten hat: Nicht mit ihm reden, sondern ihn besiegen, weil Fanatiker weder Grenzen kennen noch verlässliche Verhandlungspartner sind. Vorderhand kann es nur darum gehen, dass sich Russland auf die Positionen vor dem 24. Februar zurückzieht und dass, wie es Jürgen Habermas in seiner weisen Analyse konstatiert, „die Ukraine den Krieg nicht verlieren darf.“4

Glücklicherweise ist Scholz gegen strategisch hirnrissige und moralisch anrüchige Ratschläge immun. Auf einer Gewerkschaftsveranstaltung zum 1. Mai in Düsseldorf wurde er mit Trillerpfeifen und Rufen wie „Frieden schaffen ohne Waffen“ niedergeschrien, was ihn nicht beeindruckte. Er rief zurück, dass es den Ukrainern zynisch vorkommen muss, wenn ihnen geraten wird, sich gegen die Putinsche Aggression ohne Waffen verteidigen. Eine solche Haltung sei schlicht „aus der Zeit gefallen.“5

Scholz sitzt zwischen vielen Stühlen. Einerseits wird ihm vorgeworfen zu bremsen, andererseits zu hetzen und drittens zu geizen, weil – gemessen an der Wirtschaftskraft – Polen, die baltischen Staaten, die Slowakei, Kroatien und Slowenien bislang mehr Direkthilfe an die Ukraine geleistet haben als Deutschland.6

Der Bundeskanzler scheint verstanden zu haben, dass die Alternative nicht Krieg oder Frieden ist, sondern Gerechtigkeit und langfristige Sicherheit in Europa und der Welt. Dass hier weder dumpfer Pazifismus hilft, noch apodiktische Kompromissforderungen, die auf eine bedingungslose Kapitulation der Ukraine hinauslaufen. Dass es nicht darum geht, Russland eine Niederlage beizubringen, sondern um das Erringen einer gerechten Friedensordnung, die es Europa und der Welt ermöglicht, mit einem verlässlichen Partner Russland, die wirklich wichtigen globalen Probleme – Erderhitzung, Artenvielfalt, eine nachhaltige Wirtschaftsordnung und den ökonomischen Ausgleich in und zwischen Ländern – gemeinsam anzugehen.

Anmerkungen

1 Offener Brief an Kanzler Olaf Scholz, Emma, Donnerstag, 29. April 2022.
2 Offener Brief an Bundeskanzler Scholz, change.org, undatiert.
3 Markus Ackeret, “Russlands Aussenministerium legt im Streit mit Israel um Lawrows Äusserungen nach,“ NZZ, Dienstag, 3. Mai 2022.
4 Jürgen Habermas, „Krieg und Empörung,“ Süddeutsche Zeitung, Donnerstag, 28. April 2022.
5 „Scholz brüllt gegen wütende Proteste auf 1. Mai-Kundgebung in Düsseldorf an,“ Der Tagersspiegel, Montag, 2. Mai 2022.
6 Julia Monn, „Waffen, Nahrungsmittel und Kredite – welche Länder die Ukraine im Krieg am meisten unterstützen,“ NZZ, Donnerstag, 28.4.2022.