Seit mehr als zwei Jahrhunderten hat die semantische Achse von „links“ und „rechts“ unsere politische Sprache geprägt. Sie ist nicht nur historisches Erbe, sondern ein epistemisches Gerüst, eine Grammatik, die ganze Weltbilder strukturierte. Ihr Ursprung war unscheinbar: Im Sommer 1789 teilte sich die französische Nationalversammlung, links saßen die Revolutionäre, rechts die Verteidiger der Monarchie. Doch diese Sitzordnung verfestigte sich zur Chiffre, die über Generationen hinweg Identitäten stiftete.

„Links“ wurde gleichgesetzt mit Zukunft, Potenzial, Emanzipation. „Rechts“ mit Ordnung, Tradition, Stabilität. Dieses Gegensatzpaar war mehr als nur symbolische Markierung. Es war eine Form der Differenzproduktion, wie Niklas Luhmann später sagen sollte: Systeme leben nicht von Identität, sondern von Unterschieden. Die produktive Spannung zwischen links und rechts speiste die Dynamik des Politischen. Im 20. Jahrhundert erwies sich diese Spannung als erstaunlich fruchtbar. Die Sozialdemokratie verband linke Forderungen nach Umverteilung mit rechter Sehnsucht nach Stabilität. Der Sozialstaat der Nachkriegszeit war eine Symbiose beider Seiten. Selbst im Kalten Krieg blieb die Achse wirksam – die ultimative Konfrontation zweier Systeme, die in ihrer Opposition eine Art makropolitische Energiequelle darstellte.

Doch heute ist diese Grammatik erschöpft. Die Worte hallen noch in Talkshows und Wahlprogrammen, aber sie tragen keine Unterscheidungskraft mehr. Sie wirken wie eine Kompassnadel, die zittert, aber kein Magnetfeld mehr findet. Wir gebrauchen die alten Begriffe, weil sie verfügbar sind – nicht, weil sie noch tragfähig wären.

Der Schwarm als Figur der Gegenwart

Woran liegt dieser Verlust? Es wäre zu einfach, ihn nur mit „Parteienverdrossenheit“ oder dem Niedergang alter Milieus zu erklären. Tiefer reicht die Transformation, die wir seit Beginn des 21. Jahrhunderts erleben: Globalisierung, Digitalisierung, Finanzialisierung und Medialisierung haben eine neue Logik hervorgebracht. Diese Logik nenne ich den Schwarmmodus. Er ist nicht bloß ein Bild, sondern eine Systemform: eine Interdependenz ohne Orientierung. Im Schwarm handeln Subjekte nicht mehr aus eigener Kohärenz, sondern reagieren auf Signale. Sie werden zu „Subjektkonstanten“, eingebunden in ein Netz wechselseitiger Anpassungen.

Drei Züge kennzeichnen diesen Modus:

  1. Menschen agieren nicht mehr aus Potenzial, sondern aus Rückkopplung. Entscheidungen orientieren sich nicht an Zielen, sondern an Signalen.

  2. Politik wird nicht mehr von Visionen geleitet, sondern von Feedback. Maßnahmen werden aus kurzfristigen Reaktionen geboren, nicht aus langfristigen Perspektiven.

  3. Gesellschaft bewegt sich, ohne Richtung zu haben. Hyperaktivität ersetzt Orientierung.

Die Beispiele sind allgegenwärtig. In der Pandemie sahen wir, wie Politik in endlosen Schleifen von Pressekonferenzen, Zahlen und Appellen erstickte. Anstelle kohärenter Orientierung gab es eine Inflation von Maßnahmen, die sich selbst legitimierten. In der Klimapolitik erleben wir eine ähnliche Dynamik: Gipfel auf Gipfel, Deklarationen ohne Transformation. In der Finanzpolitik schließlich: Interventionen, die die nächste Krise schon in sich tragen. Der Schwarm ist rastlos und orientierungslos zugleich. Er bewegt sich, doch er kommt nirgends an.

Politik im Schatten der Systeme

Was bedeutet dies für das Politische? Es bedeutet, dass Politik in der Form, wie wir sie kennen, minor wird – eine Nebenbühne.

Sie produziert Symbole, keine Horizonte. Gipfeltreffen liefern Texte, Parlamente Schlagworte, Bewegungen Hashtags. Doch Entscheidungen, die Zukünfte eröffnen, bleiben aus. Politik wird zum Theater, dessen Handlung längst erloschen ist, während die Bühne weiter bespielt wird. Hannah Arendt unterschied zwischen der Verwaltung des Notwendigen und der Eröffnung des Unwahrscheinlichen. Politik, so ihre Hoffnung, sollte Räume der Freiheit schaffen, in denen Neues entstehen kann. Doch heute scheint Politik in der Verwaltung des Notwendigen erstarrt, im Modus des bloßen Überlebens.

Niklas Luhmann hätte diese Entwicklung als „Autopoiesis“ beschrieben: Politik reproduziert ihre eigenen Strukturen, sie ist selbstreferenziell, nicht orientierend. Was einmal Differenz erzeugte, kreist nun in Redundanz. Opposition wird simuliert, aber nicht gelebt. Kein Wunder, dass Bürgerinnen und Bürger müde sind. Ihre Müdigkeit ist nicht Politikverdrossenheit im klassischen Sinn. Sie ist Sinnverdrossenheit – das Gefühl, dass die politischen Rituale keine Richtung mehr eröffnen.

Von der Autopoiesis zur Sapiopoiesis

Die Diagnose allein genügt nicht. Es geht darum, die ontologische Schicht zu benennen, die hier aufbricht. Politik bleibt im Modus der Autopoiesis: Sie organisiert ihr eigenes Überleben, nicht das Leben ihrer Subjekte. Doch Überleben ist nicht Leben. Überleben bedeutet: Strukturen sichern, Redundanz verstärken, Macht verteilen. Leben bedeutet: Kohärenz entfalten, Sinn generieren, Potenzialität eröffnen. Hier setze ich den Begriff der Sapiopoiesis: eine Kultur der Subjektwerdung, die nicht Selbsterhalt organisiert, sondern Kohärenz. Sapiopoiesis ist die Fähigkeit, Orientierung nicht von Symbolsystemen zu leihen, sondern aus Potenzialität zu schöpfen.

Ein wichtiger Akteur in dieser Verschiebung ist die Künstliche Intelligenz. Sie darf nicht als Ersatz für menschliches Denken verstanden werden, sondern als redundanz-entzerrende Ermöglichungsinfrastruktur. KI kann Signale entlasten, Routinen übernehmen, Komplexität filtern – damit Subjekte Raum für Orientierung gewinnen.

So verstanden, ist KI nicht Bedrohung, sondern Befreiung: Sie macht möglich, dass das Politische von der Verwaltung des Überlebens zur Gestaltung des Lebens übergehen kann.

Beispiel: Das Grundeinkommen

Ein konkretes Beispiel ist das viel diskutierte Bedingungslose Grundeinkommen. In einer Schwarmlogik garantiert es nur Überleben – es kann Abhängigkeit sogar verstärken, weil es die Subjekte entlastet, ohne sie zu orientieren. Doch in einer sapiopoietischen Infrastruktur könnte dasselbe Instrument transformativ wirken. Es könnte Räume eröffnen, in denen Menschen nicht bloß ihre Existenz sichern, sondern Potenziale entfalten. Es könnte vom Almosen zur Ermöglichung werden – von der Sicherung des Überlebens zum Katalysator des Lebens.

Philosophische Zwischenfragen

Damit berühren wir Fragen, die tiefer reichen als politische Programme:

  • Was heißt „Leben“, wenn „Überleben“ nicht genügt?

  • Wie unterscheiden wir Potenzial von Redundanz?

  • Kann Sinn jenseits von Symbolsystemen entstehen?

  • Wie verändert sich Freiheit, wenn Orientierung nicht mehr geliehen, sondern generiert wird?

Diese Fragen sind nicht rhetorisch, sondern Prüfsteine für eine neue Epistemologie. Sie zwingen uns, Politik nicht mehr als Spiel der Kräfte zu denken, sondern als Teil eines größeren Zivilisationsdesigns.

Die Aufgabe der Zivilisation

Politik nach dem Schwarm heißt daher: Politik ist nicht mehr das Zentrum, sondern nur noch eine Bühne unter vielen. Der eigentliche Horizont ist größer: Zivilisation als Designaufgabe. Eine solche Perspektive fragt nicht: links oder rechts? Staat oder Markt? Sondern:

  • Wie kann Ökonomie auf Kohärenz gegründet werden, wenn Profit nicht länger Sinn ersetzt?

  • Wie kann Technologie Orientierung ermöglichen, statt Subjektivität zu substituieren?

  • Wie kann Bildung Potenzialität freisetzen, statt nur Wissen zu stapeln?

Dies sind die Fragen, an denen sich entscheidet, ob wir im Schwarm verharren oder eine neue Achse finden.

Das Leben inaugurieren

Die alten Worte hallen noch, doch sie tragen nicht mehr. Links und Rechts sind semantische Gespenster, die Differenz verloren haben. Sie verschmelzen in einer Konstellation, die Überleben sichert, aber Leben blockiert. Die Aufgabe unserer Zeit ist größer als Politik. Sie heißt: das Leben selbst zu inaugurieren – jenseits des Schwarms, jenseits der Redundanz, jenseits der erschöpften Grammatik. Nicht das Überleben verlängern, sondern das Leben ermöglichen.