Das Völkerrecht unterscheidet zwischen der Legalität militärischer Gewalt (jus ad bellum) und der Rechtmäßigkeit der Kriegsführung (jus in bello). Nach dem Schrecken zweier Weltkriege in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, vereinbarten die Länder der Welt 1945 in der Charta der Vereinten Nationen, dass die Anwendung militärischer Gewalt grundsätzlich illegitim ist (Artikel 2), abgesehen im Falle der Selbstverteidigung (Artikel 51).

Außerhalb Russlands und seiner Unterstützerallianz, bestehend aus einer Handvoll randständiger Diktaturen wie Belarus, Eritrea, Nikaragua, Nordkorea und Syrien, gibt es keine ernstzunehmenden Beobachter, die den russischen Angriff auf die Ukraine nicht als völkerrechtswidrig einschätzen und verurteilen. Auch kommt es kaum vor, dass die russischen Kriegsverbrechen abgestritten, relativiert, verharmlost oder gar gerechtfertigt werden.

Aber es sind noch immer Stimmen zu hören, welche „dem Westen“ raunend eine Mitschuld an Russlands Angriffskrieg zuschreiben. Die NATO Ostererweiterung soll legitime russische Sicherheitsinteressen verletzt und Versprechen gebrochen haben. Um diese Legenden geht es im Folgenden.

Nach dem Mauerfall gab es kein Versprechen des Westens, die NATO nach einer Wiedervereinigung Deutschlands nicht nach Osten zu erweitern. Es hätte auch keinen Sinn ergeben, denn sowohl die Sowjetunion wie der Warschauer Pakt existierten 1990 ja noch und ihr Verschwinden war schlichtweg undenkbar. Eine schriftliche Versicherung, die NATO im Gegenzug für die Wiedervereinigung nicht nach Osten auszudehnen, hätte verlangt werden können, wurde aber nicht, was Gorbatschow bekräftigte. Es sei ein Mythos, dass er betrogen worden sei.

Erst nach dem Zerfall des Warschauer Paktes im Juli 1991 und der Implosion der Sowjetunion Ende 1991, änderte sich die Lage, weil den dem Ostblock entkommenen baltischen Staaten und Polen daran gelegen war, ihre frisch gewonnene Souveränität durch das völkerrechtlich verbriefte Recht der freien Bündniswahl abzusichern.

Für die Sowjetunion war es im Chaos der Entwicklungen wichtiger, das wiedervereinigte Deutschland aus der NATO herauszulösen, besser noch, dass es neutral sein sollte. Der damalige US Außenminister James Baker überzeugte Gorbatschow, dass niemand an einem blockfreien Deutschland – womöglich einem mit Atomwaffen – interessiert sein könnte. Besser sei es, Deutschland an einer kurzen US Leine zu halten. In seinem neun Punkte Plan vom Mai 1990 schlug er vor, dass Deutschland – ohne atomare, biologische und chemische Waffen – Mitglied der NATO bleiben sollte, NATO Truppen für eine Übergangsperiode aber nicht auf dem Gebiet der DDR stationiert würden und man vertrauensbildend mit der Sowjetunion zusammenarbeiten wolle.

Im May 1997 wurde die Grundakte über Gegenseitige Beziehungen, Zusammenarbeit und Sicherheit zwischen der Nordatlantikvertrags-Organisation und der Russischen Föderation beschlossen.

Um den defensiven Charakter der Osterweiterung zu unterstreichen und diese militärisch möglichst unbedrohlich zu gestalten, bestätigte die NATO, weder Absicht, noch Pläne, noch Gründe dafür zu haben, Kernwaffen oder dauerhaft umfängliche Kampftruppen auf dem Gebiet der neuen Mitgliedsländer zu stationieren. Bis 2014 – also bis zu Russlands Annexion der Krim und den Angriffen im Donbass – unterhielt die NATO auch tatsächlich keine Kampftruppen in den baltischen Staaten und Polen, sondern nur kleinere rotierende Einheiten mit höchstens Stolperdrahtfunktion.

Im Mai 2002 unterzeichneten Präsident Putin und die damals neunzehn NATO Staats- und Regierungschefs die Erklärung von Rom. Putin erwähnte die NATO Osterweiterung mit keinem Wort. Offenbar war er unbesorgt. Die rot-grüne deutsche Regierung (Schröder/Fischer) unterstützte die NATO Ausdehnung nach Osten.

Putin sagte im Erweiterungsjahr 2004, dass jedes Land das Bündnis wählen solle, das ihm für seine Sicherheit am geeignetsten erscheine. Auf einer gemeinsamen Pressekonferenz am 2. April 2004, vier Tage nach dem Beitritt der Balten, stand der russische Präsident lächelnd neben dem deutschen Bundeskanzler und lobte, dass sich die Beziehungen Russlands zur NATO positiv entwickelten. Er fuhr fort:“ Hinsichtlich der Nato-Erweiterung haben wir keine Sorgen mit Blick auf die Sicherheit der Russischen Föderation.“

Die letzte NATO Osterweiterung war also 2004, vor nunmehr fast zwei Jahrzehnten. Eine Einkreisung Russlands war angesichts einer 22.407 km Landesgrenze, davon 1.317 km mit NATO Ländern, also knapp 6 Prozent, weder damals noch später plausibel. Auch weil die baltischen Staaten, Norwegen, Polen und die NATO als Ganzes nie Angriffspläne gegen Russland hegten. Nein, man glaubte an Wandel durch Handel, an strukturelle Nichtangriffsfähigkeit, billige russische Energie und einen attraktiven Absatzmarkt für hochwertige Industrieprodukte. Territoriale Expansion hätte nichts gebracht, sondern nur die kommoden Geschäftsbeziehungen gestört.

Warum sollte die NATO Osterweiterung zwei Jahrzehnte später ein casus belli sein? Nein, legitime – im Gegensatz zu paranoiden – russischen Sicherheitsinteressen wurden nicht verletzt und Russland war sehr wohl in das europäische Haus eingebunden, nicht zuletzt durch die klimapolitisch unsinnige Gasröhre Nord Stream 2. Selbst nach Russlands Krimbesetzung wurde sie von den Regierungsparteien CDU und SPD energisch unterstützt.

Putins Aufsatz vom 12. Juli 2021 und seine Rede vom 24. Februar 2022 machten unmissverständlich deutlich, dass er die Unabhängigkeit der Ukraine nicht akzeptiert, sondern das Land als Teil des historischen Russland sieht. Am 9. Juni 2022 verstieg er sich zu einem Vergleich mit Peter dem Großen und kündigte an, [LINK] „historisch zu Russland gehörende Länder heimzuholen.“ Kein Wort mehr zu einer Bedrohung durch die NATO. Nachdem Putin selber die Legende aufgegeben hat, ist es eine Kuriosität, dass sie in einigen westlichen Nischen noch inbrünstig gepflegt wird.

Auch ist bemerkenswert, dass westliche Putin-Versteher das Budapester Memorandum vom 5. Dezember 1994 ignorieren, welches Russlands explizite Versicherung enthält, “die Unabhängigkeit, Souveränität und Grenzen der Ukraine zu respektieren und Gewalt gegen das Land weder anzudrohen noch einzusetzen.“ Schlussfolgernd ist festzustellen, dass die nach dem zweiten Weltkrieg etablierte Weltordnung durch Putins Aggression auf dem Prüfstand steht. Sollte er erfolgreich sein, würde Recht durch Macht ersetzt werden und die Gesetze des Dschungels wieder gelten. Das darf nicht geschehen. Eine Regierung, welche eklatante Ungesetzlichkeiten begeht – verbindliche Rechtsabkommen verletzt und systematisch Kriegsverbrechen begeht – ist kein verlässlicher Verhandlungspartner.

So sehr man sich anderes wünschen möchte, aber weil sich Russland außerhalb des Völkerrechts bewegt und vor allem wegen der offenen militärischen Lage, ist die Zeit für Diplomatie noch nicht gekommen, wie sie es auch im Januar 1871, im Januar 1915, im Januar 1940 oder im Januar 1942 noch nicht war.

Dem G-20 Treffen auf Bali im November 2022 präsentierte der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski einen zehn Punkte Friedensplan, welchen Russland postwendend mit massiven Raketenangriffen auf die zivile ukrainische Infrastruktur beantwortete. Putins Waffenstillstand zum orthodoxen Weihnachtsfest wurde von der russischen Armee weitgehend ignoriert.

Unter diesen Umständen kann Diplomatie den Krieg noch nicht beenden, höchstens die Auswirkungen des russischen Angriffskriegs begrenzen.