Beim Stöbern in Bücherregalen finden wir oft Titel, die uns direkt ansprechen: Ein buch über kleine dinge, ein buch über verlorene liebe oder Etwas über alles. Wir projizieren unsere eigenen Erfahrungen auf diese Formulierungen und füllen die unsichtbaren Seiten mit unserer Fantasie. Dieser stille Akt der Selbstvervollständigung steht im Mittelpunkt von John Wood und Paul Harrisons Kunst, die nicht nur gesehen, sondern im Kopf der Betrachtenden aktiviert wird.
In ihrer Einzelausstellung Love songs for desperados präsentiert das britische Künstlerduo eine Reihe neuer Ölgemälde, die diese offene, selbstreferenzielle Herangehensweise fortsetzen. Im Zentrum der Ausstellung hängt Some pain ted books (2025), ihr bislang grösstes Gemälde, aus 24 Tafeln bestehend, mit 690 handgemalten Buchrücken. Andere gemalte Werke, meist einteilige Bücher regale, sind eigenständige Kapitel wie Studien zu Farbtönen, graduell steigende Winkel oder Himmelsrichtungen wie auf einem Kompass. Auch in dieser Serie, A painting about ... (alle 2025), wirkt jedes Gemälde sowohl fertig als auch un vollständig, bietet eher Einladungen als Schlussfolgerungen und lässt Raum für Projektionen und Reflexionen.
Ihre Skulpturen erweitern diese Denkweise in die dritte Dimension. Einfache Anordnungen wie ein Schulpult und ein Stuhl, die mit Kugelschreiber ob sessiv koloriert wurden, ein Wäscheständer aus Holz oder ein Couchtisch mit einem scheinbar beiläufig darauf liegenden Buch, werden zu Trägern imaginärer Geschichten. Mit Titeln wie Desk and Chair, Sense of an Ending oder Applied physics (alle 2025) erinnern diese Werke an die frühen Performances des Duos aus den 1990er Jahren, als Möbel und architektonische Elemente keine passiven Requisiten, sondern Protagonisten waren. In gedämpftem Farbton ge halten und mit ihrer formalen Präsenz offenbaren diese Skulpturen eine eher introspektive, sogar melancholische Seite ihrer künstlerischen Praxis – ein Gegengewicht zu den lebhaften Gemälden und kühnen Neonarbeiten.
Neonarbeiten, ein seit langem bestehendes Element ihres Werkes, erfüllen hier eine andere Rolle. Direkt und selbstbewusst wirken diese leuchtenden Phrasen wie Words on the front of a building (2023), On/Off (2023) oder Wall (2021), wie formgewordene Beschriftungen. Von unterschiedlicher Grösse und unverhohlen offensichtlich, suggerieren sie nichts, sondern erklären. Ihre Klar heit und visuelle Wirkung hinterlassen einen Eindruck, der unmittelbar und unverkennbar ist.
Love songs for desperados bietet eine Reise ins Innere, wo Melancholie auf Hu mor trifft und Klarheit neben Mehrdeutigkeit existiert. Es ist eine Momentauf nahme dessen, wo Wood und Harrison heute stehen – und ein offenes Buch, in das sich jede*r hineinlesen kann, unabhängig davon, wie sie/er sich gerade fühlt.