Die kanadische Künstlerin Erin Shirreff beschäftigt sich mit Fotografie, Skulptur und Video. In allen Medien sind ihre Arbeiten grundsätzlich bildbasiert, und ihr künstlerisches Schaffen ist im Atelier und im Prozess verwurzelt: materielle Übersetzungen von zwei in drei Dimensionen, von analog zu digital – und
umgekehrt. Für ihre Einzelausstellung Table Muse präsentiert Shirreff eine Auswahl aktueller Werke, die auf den ersten Blick recht unterschiedlich sind, aber letztlich dieselbe Sprache sprechen, von gleicher Monumentalität sind, sowie eine auratische und zeitliche Qualität teilen. Mit dieser ineinandergreifenden Werkgruppe verleiht die Künstlerin ihrer Neugier für verschiedene Formen der Aufmerksamkeit und Momente einer ästhetischen Begegnung Ausdruck.

Für Shirreff gehören Galerien und Museen zu den wenigen Orten, an denen wir ohne vorgegebenes Skript denken können. Mit ihren Werken fordert sie die Besuchenden auf, wiederholt hinzuschauen und erklärt: „Ich verwende Kunst als Gegenstand, weil Kunst ein Objekt der Kontemplation ist, und letztendlich ist
es genau das – Nachdenken durch Hinsehen – was mich am meisten interessiert.“

Paper sculpture (2024) und Table muse (2025) untersuchen auf jeweils unter schiedliche Weise die Spannung zwischen Oberfläche und Räumlichkeit, zwischen Teilen und dem fehlenden Ganzen. Shirreff bezieht Bildfragmente für diese Arbeiten aus Kunstbüchern, die in den letzten 80 Jahren veröffentlicht wurden. Diese digitalisiert sie, vergrössert sie und druckt sie auf Aluminium platten. Die dünnen, nun metallischen Bilder werden in Formen zugeschnit ten und zu skulpturalen Collagen in tiefen Rahmen geschichtet. Das Experimen tieren findet damit nicht nur auf der Ebene des Bildes statt, sondern erstreckt sich auf den physischen, vitrinenartigen Raum des Rahmens. Reproduzierte und natürliche Schatten, wahrgenommene und tatsächliche Kanten verbinden sich zu neuen Formen, und neuen Körpern.

Shirreff konstruiert oft provisorische Skulpturen speziell für ihre Fotografien, und seit 2019 hat sie eine Reihe von Bronzegüssen geschaffen, die aus diesen Ad-hoc-Requisiten hervorgegangen sind. Maquette (A.P. Nr. 10) (2019) und Burnout (2024), die in der Ausstellung zu sehen sind, haben beide ihren Ursprung in ihren früheren fotografischen Arbeiten. Das Besondere an Shirreffs Bronze güssen ist, dass sie nie in ihrer Gesamtheit erfasst werden können, ähnlich wie fotografische Arbeiten immer nur ein Fragment von etwas Grösserem sind. Selbst wenn man sie wiederholt von allen Seiten betrachtet, scheinen diese un nachgiebigen Objekte in einem Zustand ständiger Veränderung zu verweilen.

An der Wand lehnen zwei neue Skulpturen aus Shirreffs fortlaufender Serie Drop. In diesen Werken sind schwere Platten aus Cortenstahl aufgereiht und mit grossen, unregelmässigen Aussparungen versehen. Hier steht der Negativ raum, die Leere innerhalb der Rechtecke, im Zentrum. Die Silhouetten sind präzise, aber vage, und trotz der Körperlichkeit des rohen Stahls erinnern sie an einfache Papierausschnitte und -reste auf einem Atelierboden. Diese Werke korrespondieren mit einer Serie neuer Cyanotypie-Fotogramme aus dem Jahr 2025, die jeweils in einzigartigen Farbtönen von tiefem Rot, Braun oder Mari neblau gehalten sind und eine ähnliche Formensprache aufweisen: Kurven, Kanten, Überlagerungen und Verbindungen, die sowohl exakt als auch form los, spezifisch und undefiniert sind.