König Galerie präsentiert eine Einzelausstellung des deutsch-britischen Künstlers Michael Müller. Unter dem Titel Fragmente der zeit vertieft er seine malerische Auseinandersetzung mit dem antiken griechischen Mythos der Dioskuren, die er 2022 mit der raumfüllenden Malereiinstallation Der geschenkte tag im Frankfurter Städel Museum begann. Dies ist seine erste Ausstellung in der Galerie und sie fällt mit einer groß angelegten Installation im Neuen Museum auf der Museumsinsel in Berlin zusammen.
Söhne der Leda, in einer Nacht von unterschiedlichen Vätern gezeugt – der eine von dem Göttervater Zeus in Schwanengestalt, der andere von einem Sterblichen –, Brüder der schönen Helena, Argonauten, Helden, legendäre Faustkämpfer und Rossebändiger, Siegende, Gefallene, Liebende, Wanderer zwischen den Welten, Sternenbilder am Nachthimmel: Die ungleichen Zwillingsbrüder Kastor und Polydeukes – der eine sterblich, der andere unsterblich – wählen aus Liebe zueinander nach dem Tod des sterblichen Kastor im Kampf das Schicksal, täglich gemeinsam zwi schen dem Olymp, dem Götterhimmel, und dem Hades, dem Reich der Toten, zu wandern und auf der unsicheren Schwelle von Leben und Tod zu verharren – täglich geboren zu werden und zu sterben.
Diesen Mythos beleuchtet Müller nun für Fragmente der zeit erneut aus einer anderen Perspektive: So prä sentieren die gezeigten Werke mit den Mitteln der abstrakten Malerei einzelne Aspekte der Erzählung, kon krete Begebenheiten und Situationen aus dem Leben der Dioskuren, die der Künstler immer wieder in ein subjektives Verhältnis zu sich selbst setzt und seine eigene Rolle in dieser komplexen Konstellation untersucht. In unterschiedlichen Transparenzen, von durchsichtigen Malgründen, wie in Das gemälde als objekt (2025) und LPHY (am Kreuz) (2022/23), bis zu opaken, melancholisch schwarz auf schwarz gemalten Leinwänden, wie Der erschöpfte sigmar polke (2025), auf der Schwelle von rot-orangenen „Hades“-Bildern und wolkenweißen Himmelsbildern (Aides Olymp schwebebahn GmbH, 2022) übersetzt der Künstler die mythische Welt der Erzählung in unsere sichtbare Wirklichkeit: Die täglichen Übergänge zwischen den Welten, die die Dioskuren vollziehen, zerreißen Bilder in ungleich große Teile (Sturz in einen anderen Raum, zur gleichen Zeit, 2021/22). Sich überlagernde Schichten von Sichtbarkeiten und Unsichtbarkeiten finden ihre Parallele in komplexen Beziehungsgeflechten der Werke untereinander: So greifen die Gemälde immer wieder Elemente anderer Werke auf, die teilweise – wie bei den beiden zweiteiligen Arbeiten Ein werk, drei bilder (2022/24) – digital bearbeitet und verfremdet auf die Leinwand gedruckt und zur Grundlage malerischer Fortführungen, Ausarbeitungen und Gesten werden, die manches überdecken und vor den Blicken der Betrachtenden verstecken, anderes jedoch erst freilegen. „In der Malerei suche ich nach dem, was nicht zu sehen ist“, beschreibt Müller die Aufgabe. „Ein Künstler entdeckt, was erst einmal unsichtbar ist. Und das Malen ist Sichtbarmachung genau dessen.“
Die in der Unterwelt hausenden Seelen, die Schatten der Verstorbenen, suchen die düsteren Werke heim, die Machtfülle der auf dem Olymp wohnenden und herrschenden Götter stellen die Autorität des Malers über seine eigenen Werke infrage. Was an einem Kunstwerk ist der Ewigkeit verpflichtet, was der Zeitlichkeit und Vergänglichkeit unterlegen? Und was passiert, wenn man in keiner der Welten zu Hause ist, oder in beiden zugleich – wie die Grenzgänger Kastor und Polydeukes? Wie verändert sich der Gehalt antiker Mythen, wenn man versucht, sie für eine Gegenwart zu aktua lisieren und vom Allgemeinen in das Individuelle zu überführen? Was sieht der Maler in seinen Werken, was sehen die Betrachtenden? „Der Blick ist kein objektives, mechanisches Messen, das Auge im Kopf bewegt sich, die Neugierde fokussiert ständig neu“, sagt Müller. „Die Linse ist mal trüb, mal klar, ein Gedanke legt sich wie ein Filter vor sie. Ein Gefühl ärgert wie ein Staubkorn den Blick.“ Ist das hinter den schwärzesten Wolken am Horizont leuchtende Orange auf dem melancholischen Die sehnsucht des unbestechlichen fährmanns (2025) die bedrohliche Vorahnung der kommen den Höllenqualen oder der Hoffnungsschimmer des Glanzes der olympischen Götter?
Müller entfaltet in dunklen Farben eine vielschichtige und anspielungsreiche künstlerische Reflexion über die Bedeutung von Zeit, Sterblichkeit und überzeitlicher Liebe, die beharrlich die Möglichkeiten und Grenzen der Abstraktion abwägt und die entscheidende Frage stellt: Kann ein abstraktes Kunstwerk eine Geschichte erzählen?
(Text von Gero Heschl)