In den letzten Jahrzehnten hat sich in Anbetracht der Globalisierung und Digitalisierung einiges an unseren gesellschaftlichen Werten und Standards verändert und entwickelt; wir genießen nun umstrittenerweise einen Grad an noch nie zuvor dagewesenen Friedens, Sicherheit und Komforts - ein Privileg, was nach dem Zeitalter der Weltkriege im 20. Jahrhundert fast undenkbar schien. Dies mag unter Anderem auch an steigenden Produktivitätsleveln liegen, die mit der 40-Stunden-Woche und dem Aufstieg von feministischen Ideologien den Fokus auf Arbeit mehr ins Zentrum gerückt hat.

Parallel dazu hat sich auf tiefer psychologischer Ebene wohl eine Art von zugrunde liegenden Wunsch nach Optimierung in unsere Gemüter eingeschlichen - ob in Form von unrealistischen Schönheitsidealen, in der Gymkultur, Ernährungswahn u.Ä. Dies führt dazu, dass es in einer immer mehr auf Perfektion ausgerichteten Konsumgesellschaft immer weniger Platz für Imperfektion und Fehler gibt.2 Die menschlichen Aspekte von Kreativität, Spontanität und Authentizität werden früher oder später, wenn das so weitergeht, in einer kalkulierten Welt aus Optimierung, Planung und Perfektionismus komplett unterdrückt. Dies wird dann zum Problem, wenn wir davon ausgehen, dass Kreativität zu den relevanten und zu erhaltenden Aspekten des Menschseins gehört. Aber was genau ist Kreativität überhaupt, und was macht sie zu einem so wichtigen Bestandteil unserer Welt?

Definition von Kreativität

Nach bildungssprachlicher Definition ist Kreativität die Fähigkeit, etwas Neues und Originelles zu erschaffen, was es vorher noch nicht gab. Oft wird Kreativität mit künstlerischem Ausdruck assoziiert - ob Literatur, Malerei, Schauspiel, Musik o.Ä. Jedoch geht der Begriff auch über diese Kategorie hinaus, bezieht sich auf jegliches Schaffen, naturwissenschaftlicher, philosophischer oder anderweitiger Art jeglicher freien Kreation.1 Dabei hängt Kreativität oft auch mit Authentizität - der Echtheit gegenüber dem eigenen Inneren - zusammen, einem tief verwurzelten psychologischen Bedürfnis, das jeder in uns trägt.

Nun leben wir wohl in einer Ära, in der Kreativität allgegenwärtig zu sein scheint – Content Creation, Design Thinking, Innovation sind mit ihrer wachsenden Wichtigkeit in der Vermarktung zu Schlagwörtern des wirtschaftlichen Fortschritts geworden. Jedoch ist diese Art von Kreativität nicht mehr dieselbe - stattdessen wird sie zu einer Art performativer Kreativität, als kapitalistisch instrumentalisierte Ware, die sich als Authentizität verkauft, in Wahrheit aber ausschließlich auf ökonomisches Wachstum ausgerichtet ist. Nun, da sogar die Felder, die einst als kreative Ausdrucksform geschaffen wurden, nun auch von kapitalistischen Leistungsideologien verseucht wurden, wird es immer schwerer Raum für authentischen Kreativen Flow zu generieren.

Nun stellt sich die Frage; wie kann also echte Kreativität – spontan, zweckfrei, ungekünstelt – in einer Welt überleben, die alles in Produktivität und Leistungsdruck übersetzt? Inwiefern haben diese Instrumentalisierung und Kapitalisierung von Kreativität Konsequenzen für unser langfristiges Wohlbefinden? Nun, da wir uns einen Überblick verschafft haben, wende ich mich an den Begriff der Überoptimierungskultur und wie die Kreativität darunter leidet.

Definition der Begriff "Überoptimierungskultur"

Nach bildungssprachlicher Definition ist der Begriff Überoptimierungskultur ein Zustand, in dem sowohl spirituelle als auch emotionale Aspekte in der Gesellschaft an Bedeutung verlieren und ersetzt werden durch Formen der Optimierung. Im Allgemeinen beschreibt diese Ausdrucksform die starke Überwertung von Leistungssteigerung, Effizienz und Perfektion. Der Philosoph Byung-Chul Han beschreibt diesen Zustand genauer in seinem Werk Müdigkeitsgesellschaft als eine Leistungsgesellschaft, in der wir Menschen als Leistungssubjekten zugleich zu Tätern und Opfern unserer Selbst werden und uns durch unser stetiges Verlangen nach Optimierung selbst ausbeuten.3In dem folgenden Zitat wird dieser Sachverhalt noch einmal klar ausgedrückt;

Das Leistungssubjekt ist zugleich Täter und Opfer. Es ist frei und doch in sich selbst gefangen.³

(Byung-Chul Han, aus "Müdigkeitsgesellschaft", 2010, S. 23)

Das Resultat ist eine Kultur, in der immer weniger Raum für Fehler, Spontaneität und Authentizität toleriert wird, da nun große Bereiche des menschlichen Seins diesem allgegenwärtigen Optimierungsdruck unterworfen werden. In anderen Worten führt dies zur Ausrottung authentischer Kreativität. Nun zählen Werte: Marktfähigkeit, Produktivität und Performance statt Echtheit und Transparenz.

Und nun? Konsequenzen und Vorhersagen

Viele fragen sich nun vielleicht - Na und? Dann orientiert sich unsere Gesellschaft nun mal eben mehr an Leistung und Effizienz. Wo ist das Problem? Schließlich muss das Wirtschaftswachstum ja von irgendwo herkommen. Ist es wirklich nötig, so "unproduktive" Sachen wie Kreativität und Authentizität zu wahren/erhalten, wenn sie keinen extrinsischen Nutzen bringen?

An diesem Punkt würde ich gerne über David Graebers Bullshit Jobs sprechen. In dem Buch geht es um die Sinnlosigkeit vieler Tätigkeiten in der Leistungsgesellschaft und wie dies den Menschen “psychologische Gewalt” antut und “tiefe moralische Narben” hinterlässt.4 Hier ist von sinnloser Arbeit die Sprache, die auf den ersten Blick nach den Werten der Leistungs- und Optimierungsgesellschaft klingt. Es geht darum, dass durch den Kompromiss des intrinsischen Zwecks von Erfüllung und Glück beim Arbeiten wenigstens der extrinsische Zweck von Leistung und Wachstum erfüllt werden sollte. Jedoch fehlen bei sogenannten Bullshit Jobs nicht nur der intrinsische Nutzen, sondern auch der extrinsische. Somit fehlt es, nach Graebers Angaben, einem Großteil an Jobs der heutigen Zeit nicht nur an gesellschaftlichem Nutzen, sondern auch an jeglicher persönlicher Erfüllung.4

Studien belegen zum einen, dass mit dem Anbruch des Optimierungs-Zeitalters psychische Belastungen wie Burn-out, Erschöpfung und Stress-Raten extrem gestiegen sind. Damit ist nicht nur die kollektive mentale Gesundheit betroffen, sondern auch die Wirtschaft auf lange Sicht; denn mentale Erkrankungen sind eine der führenden Grund von wirtschaftlicher Belastung in Deutschland.2

Deshalb ist es so wichtig weiterhin Platz für Fehler und Imperfektion in unserer Gesellschaft zuzulassen, denn diese Eigenschaften sind menschlich und können mit noch so viel harter Arbeit und Verbesserung nicht beseitigt werden.

Ausblick

Die Frage bleibt: Können wir in einer Welt, in der alles funktionieren und optimiert werden soll, noch wir selbst sein mit unseren Fehlern, Imperfektionen und unserer Unkalkulierbarkeit? Ich denke, dass es wichtig ist, diesen Safe Space zu kultivieren und am Leben zu erhalten und eventuell durch verschiedene Maßnahmen im öffentlichen Raum mehr Visibilität und Förderung für freie, ungebundene Kreativität, Spielerisches und Authentizität schaffen zu können. Natürlich ist es zugleich wichtig anzuerkennen, dass es Bereiche gibt, in denen eine strenge und konsequente Arbeitsmoral – mit kaum Raum für Fehler – von essenzieller Bedeutung ist, etwa in der Medizin, der Luftfahrt oder im Ingenieurwesen, wo Präzision und Zuverlässigkeit über Menschenleben entscheiden können. Gerade deshalb erscheint mir die Balance als so wichtig; eine Gesellschaft, die sowohl Raum für Experimente, Fehler und Spiel lässt, als auch Verantwortung und Exaktheit dort bewahrt, wo sie notwendig ist. Ich denke, dass wir nur so gleichzeitig menschlich und fortschrittlich bleiben können.

Anmerkungen

1 Kreativität. In Wissen Lexikon (o.J.).
2 Hewitt, P. L., & Flett, G. L. (1991). Perfectionism in the self and social contexts: conceptualization, assessment, and association with psychopathology. Journal of personality and social psychology, 60(3), 456–470.
3 Han, Byung-Chul. Müdigkeitsgesellschaft (2010). Berlin, Matthes & Seitz.
4 Graeber, David. Bullshit Jobs (2018). Über die Sinnlosigkeit vieler Tätigkeiten in der Leistungsgesellschaft.