Was ist Musiktherapie?

Musik ist Rhythmus, Klang und Melodie. Musik ist Spiegel unserer Emotion und schafft Zugang zu unserer Seele. Musik ist Therapie im Takt. Die Musiktherapie fördert und stabilisiert mit diesem Wissen Gesundheit und Wohlbefinden. Ein Musiktherapeut kann also gezielt die musikalischen Wirkfaktoren zum Wohle der PatientInnen einsetzen. Dies bedarf sowohl musikalischer wie psychotherapeutischer und körpertherapeutischer Kompetenz. Mein persönlicher Schwerpunkt liegt im musiktherapeutischen Einsatz der Stimme.

Bitte erläutern Sie uns Ihre Arbeit mit Patienten im Endstadium, wie wirkt Musik bei ihnen im palliativen Prozess?

Seit 2001 arbeite ich in der Psychoonkologie der Uniklinik Köln mit krebskranken Menschen. Einigen von ihnen begegne ich später wieder im Palliativzentrum der Uniklinik, dem sogenannten Mildred-Scheel-Haus (MSH), in dem ich seit 2012 arbeiten darf. Der Begriff „palliativ“ bezeichnet therapeutische Maßnahmen, die nicht auf die Heilung einer Erkrankung, sondern auf die Linderung der durch sie ausgelösten Beschwerden ausgerichtet sind.

Ziele

In Absprache mit dem Behandler-Team (PsychotherapeutInnen, ÄrztInnen, Pflege-Kräfte) suche ich gezielt PatientInnen im MSH auf. Die KollegInnen kennen meine Arbeit aus jahrelanger Kooperation, die ich als sehr bereichernd empfinde. Musiktherapie kommt auf dieser Station zum Einsatz, u.a. um die Gefühlswahrnehmung und -Regulation der PatientInnen zu fördern (Trauer, Ängste, Wut etc.), Symptome wie Atemnot, Schmerzen und Übelkeit zu lindern und Kraftquellen zu aktivieren und so die Lebensqualität zu erhalten bzw. zu verbessern.

Alles ist Musik und Tanz

Durch meine zugewandte, auf den Patienten oder die Patientin abgestimmte Kommunikationsweise unterstütze ich eine Situation der Geborgenheit, die ein Zu- und Loslassen begünstigt.

Mein Wirken als Musiktherapeut beginnt also damit, wie ich den Raum betrete, mich bewege und mit den PatientInnen kommuniziere. Zu Beginn „schwinge“ ich mich auf sie ein, nehme bewusst ihr Atemmuster, ihre Stimmgebung, ihre Gestik und Mimik wahr, wie zugewandt sie mir begegnen, was sie mir mit ihren Augen signalisieren.

Manche PatientInnen begrüßen mich freudig, beschwingt und in guter Energie. Dann antworte ich entsprechend vital. Andere sind sichtlich erschöpft und sprechen mich verhaltener, leiser Stimme an. Hier antworte ich in beruhigender Weise (langsam, legato, leise). Das Tragen einer FFP2-Maske setzt eine gute Artikulation voraus. Es ist z.B. herausfordernd, ruhig und entspannt zu sprechen und zu singen und dabei gut verständlich zu kommunizieren. Gerade bei älteren Patienten kann eine Schwerhörigkeit dies noch komplizieren.

Musiktherapie kann aktiv erfolgen: Die PatientInnen singen mit, spielen auf einem Instrument, bewegen sich zur Musik etc.

oder passiv: Der Therapeut singt, musiziert für die PatientInnen oder legt in Absprache Klangschalen, Holz-Klanginstrumente zur Seite oder auf den Körper der PatientInnen und bringt diese sanft zum Schwingen. Alternativ kann er auch eine „Musik-Konserve“ via Bluetooth-Lautsprecher abspielen.

Der Atem ist Klang der Seele

Atem und Seele sind in vielen Kulturen eng verbunden: In asiatischen Meditationspraktiken wie Zen, Tai Chi, Qi Gong oder Yoga ist der Atem ein Schlüssel zur geistigen und körperlichen Reifung. „Psyche“ ist griechisch und bedeutet „Atem, Hauch, Seele“. Das lateinische „Spiritus“ bedeutet „Atem, Geist, Hauch“ usw. Unsere Gefühle beeinflussen unseren Atem und umgekehrt: Unser Atem kann unsere Gefühle beeinflussen. Wenn wir Angst empfinden, wird unser Atem flacher, kürzer, gerät ins Stocken. Wir sind auf die Einatmung fixiert, was unsere Angst verstärken und zur Panik anwachsen kann.

Wenn wir wütend sind, ist unser Atem gestaut und entlädt sich mitunter sehr gepresst und eruptiv. Wenn wir uns freuen, „hüpft“ unser Zwerchfell, die Atemmuskulatur wird lebendig und die Stimme klingt entsprechend beschwingt. Wenn wir entspannt sind, fließt unser Atem ruhig und wir klingen ebenso.

Wenn wir unseren Atem bewusst z.B. mittels der sogenannten Lippenbremse vertiefen, senkt dies unseren Puls und Blutdruck, die Körperspannung lässt nach, die Muskelspannung sinkt – wir beruhigen uns, Schmerzen gehen zurück. Und: Durch die Atmungsvertiefung kommen wir in Kontakt mit unseren Gefühlen. Lachen und Weinen setzt eine flexible Atemmuskulatur voraus. „Emotion“ bedeutet „Herausbewegung“, von dem, was wir empfinden – über den Atem. Indem wir den Atem vertiefen, öffnen wir also das Tor zu unseren Gefühlen. Ich vermittle PatientInnen somit die Fähigkeit, sich eigenständig via Lippenbremse / Ausatmung beruhigen zu können. Wenn sie spüren, wie Angst in ihnen aufkommt, können sie sich mittels Atmungsvertiefung eigenständig beruhigen. Sie erfahren sich auf diese Weise selbstwirksam und können zuvor zurückgehaltene Gefühle zulassen und die dahinterstehenden Bedürfnisse erkennen.

In der Musiktherapie nutzen wir gezielt sowohl den rhythmisch-belebenden und stabilisierenden als auch den fließend-sanften und beruhigenden Einsatz von Musik.

Wenn wir den musikalischen Ausdruck beseelen, verstärken wir seine hypnotische und heilsame Kraft – Schmerzen, Übelkeit, Ängste treten in den Hintergrund.

Lieder als Erinnerungsträger

Ein weiterer Wirkungs-Aspekt von Musik kommt hinzu: Kompositionen bzw. Lieder sind oft Erinnerungsträger. Sie können uns an unseren ersten Kuß, an Familienfeiern, Rituale, Reisen erinnern. Jeder Mensch empfindet Musik anders. Für den einen kann ein köllsches Karnevalslied Erinnerungen an alljährlich wiederkehrende Feiern im Freundes- und Familienkreis und damit Gefühle wie Lebensfreude und Verbundenheit auslösen, für einen anderen kann ein Volkslied wohltuende Verbundenheitserfahrungen an seine Kindheit, Nähe zur Natur, hervorrufen.

Meine Aufgabe ist zunächst „musikalische Biographiearbeit“. Im Gespräch mit dem Patienten oder der Patientin und Angehörigen spüren wir auf, welche biographischen Ereignisse oder Besonderheiten für die jetzige Situation bedeutsam sein und für ihn Kraftquellen darstellen können, die wir mittels Musik aktiveren können.

Einige kurze Fallbeispiele: Eine ca. 75 Jahre alte, demente Patientin hat vermutlich nur noch wenige Wochen zu leben. Sie habe immer viel gearbeitet und ihre Kinder allein erziehen müssen, da ihr Mann als Monteur häufig unterwegs gewesen sei. Urlaub habe es nie gegeben. Sie möchte nicht darüber klagen, aber verreist wäre sie schon gern. Ich frage sie, ob sie mit mir gedanklich nach „Capri“ reisen möchte. Sie versteht sofort. Wir vergegenwärtigen die Insel Capri am Golf von Neapel bei Sonnenuntergang und singen "Wenn bei Capri die rote Sonne", ich begleite dazu auf Gitarre. Beim Singen schwelgen wir, kosten die wunderschöne Melodie und den sehnsuchtsvollen Text aus – die Patientin zeigt dabei ihr Temperament und Genuß am gefühlvollen Ausdruck. Tränen der Rührung steigen in ihr auf. Sie wiederholt am Ende die letzte Zeile und schaut mich dabei an: "Vergiß mich nie" – sie meint wohl dabei ihren verstorbenen Ehemann.

Demente PatientInnen erkennen mitunter nicht mehr ihre primären Bezugspersonen, erinnern dafür aber sämtliche Strophen von Liedern, die sich seinerzeit (oft in der Kindheit oder Jugend) emotional in ihr Gedächtnis gebrannt haben. Solche Lieder können dann eine Brücke zu ihrer verschütteten Identität bilden und in vielerlei Hinsicht belebend auf sie wirken. Es kommt vor, dass diese PatientInnen anschließend kommunikativer sind und wichtige biographische Details erinnern und erfühlen.

Auch eine aus Nordafrika stammende, ca. 45 Jahre alte Patientin hat voraussichtlich nur noch wenige Wochen zu leben. Ich begleite sie seit ca. 2 Wochen. Sie ist im Laufe dieser Zeit im Palliativzentrum ruhiger geworden, konnte zu sich finden. Sie äußert heute den Wunsch, in der ihr verbleibenden Zeit den Themen „Dankbarkeit“ und „mit sich im Frieden leben“ mehr Raum zu geben. Ich besinge sie dazu mit dem Lied "ich wünsch Dir tiefen Frieden am Ende Deines Tages. Dass Dein Herz dankbar zurückschaut, auf all dein Tun und sein." Dabei schwinge ich mich auf ihren Atem-Rhythmus ein und singe leise, langsam und weich mit hohem Kopfstimmen-Anteil und versuche die Patientin mit meiner Stimme zu „umhüllen“. Während des Besingens schließt sie eine Zeitlang die Augen, um mich dann wieder anzuschauen. Sie entspannt sich, ihre Atemfrequenz sinkt. Sie meldet rück, dass sie sich ruhiger, friedvoller fühle.

Ein solches Besingen kann Trost und Nähe über die Synchronisierung der Atemmuster, der Zugewandtheit im beseelten Klang vermitteln. Singen kann dann zu einem akustischen Streicheln werden, einer Berührung auf Distanz. Es kommt immer wieder vor, dass PatientInnen während der Musiktherapie sich von Liedern derart angesprochen fühlen, dass diese zum Wegbegleiter für die verbleibende Zeit werden und mitunter auf Wunsch des Patienten oder der Patientin zur Beisetzung erklingen.

Oft sind Angehörige während der Musiktherapie mit im Zimmer – Ehepartner, Kinder, beste FreundInnen … Manchmal spüre ich beim Betreten des Patientenzimmers eine ohnmächtige Sprachlosigkeit unter den Anwesenden. Sie wissen anbetracht des nahen Todes ihres geliebten Menschen nicht, was sie sagen sollen und haben Angst, dass ihre Trauer sie überflutet. Auch hier frage ich nach Liedern, die sie verbinden. Solche Musik kann unser Bedürfnis nach Nähe bewusst machen , so dass beim gemeinsamen Singen oder meinem „Besingen“ die Ehepartner sich zum Patienten oder zur Patientin ins Bett legen oder das eine Enkelin die Hand ihrer sterbenden Großmutter nimmt und ihre Tränen zulassen kann. Trauer, die zuvor unausgesprochen im Raum stand, wandelt sich in gefühlte Verbundenheit und Liebes-Bekundung.

Eine ca. 45 Jahre alte Patientin arbeitete bis vor kurzem als Lehrerin. Aufgrund ihres Tumors ist sie sehr kurzatmig und fühlt sich schwach. Sie ist heute sehr traurig, da ihr soeben bewusst geworden ist, dass sie nie wieder in ihre Wohnung zurückkehren kann. Mit ihren Eltern hatte sie diesbezüglich Streit. Sie wünscht sich zur Stabilisierung heitere Gesänge. Sie möchte die Schwere der Trauer heute nicht zulassen, daher wünscht sie sich heitere Gesänge. Aus den letzten Begegnungen weiß ich, dass sie polynesische Lieder mag. Wir vergegenwärtigen die Weite des Meeres, das tiefe Blau des pazifischen Ozeans, weißen Sandstrand und Palmen. Ich singe für sie in leicht beschwingter Weise vokalreiche Melodien der Maoris. Da die Patientin schwach ist, passe ich Lautstärke, Phrasierung etc. ihrem Tonus bzw. Atemmuster / ihrer Bedürftigkeit an. Sie beginnt allmählich mit den Fingern ihrer rechten Hand dazu im Rhythmus zu „trommeln“. Unsere Atemmuster synchronisieren sich über das Singen – ihr Atem vertieft sich. Mit jedem Lied wirkt sie vitaler, ich passe Lautstärke und Tempo entsprechend an. Inzwischen trommelt sie leicht mit beiden Händen im Rhyhthmus „Epo i tai tai e …“. Ihr Lächeln mündet in ein Lachen. Anschließend meldet sie rück: „Ich fühle mich glücklich. Ich bin meinen Eltern dankbar, da ich weiß, dass sie nur mein Bestes wollen und sie gut versorgt wissen wollen.“ Sie spüre Scham, da sie tags zuvor ihren Eltern, aber auch einer Ärztin Unrecht getan habe – sie verspüre den Drang, sich bei ihnen zu entschuldigen. Sie wisse, dass sie bald sterben muß. Sie spüre keine Angst vor dem Tod. Wir singen den Gospel „One bright morning, when my work is over, wanna fly away home. Fly away like an eagle, fly away home“. Zur letzten Zeile breitet sie ihre Arme zu Flügeln aus …