In der Geschichte des Christentums gibt es Ereignisse, die viele Menschen dazu bewegt haben, dem christlichen Glauben folgen zu wollen. Mit Sicherheit war die Bekehrung des Paulus eines der beeindruckendsten Ereignisse überhaupt. Es gab Zeugen, und selbst die Beteiligten der Geschichte waren von dem, was sie sahen, zutiefst überrascht.

Das Spannendste an der Geschichte des Paulus ist jedoch nicht nur die Art und Weise, wie er Jesus begegnete, sondern wie er die Gute Botschaft weitergab – zunächst als Missionar und später als Briefschreiber, dessen Schriften bis heute als eindrucksvoller Beweis der Lehre unseres Herrn gelten. Doch es ist nicht einfach, die Essenz des Paulus zu entschlüsseln und verständlich zu erklären. Die zwei gültigen Wege, dies zu tun, sind die Theologie oder die Literatur. An dieser Stelle wollen wir jedoch den literarischen Weg wählen. Wenn wir über Theologie sprechen würden, bräuchten wir tiefere Kenntnisse in Theologie und Philosophie, was die Erklärung deutlich komplizierter und schwerer zugänglich machen würde.

Paulus’ herausragende Eigenschaften

Ursprünglich war Paulus Zeltmacher – und dafür finden sich klare historische Hinweise:

2 Dort traf er einen aus Pontus stammenden Juden namens Aquila, der vor Kurzem aus Italien gekommen war, und dessen Frau Priscilla. Claudius hatte nämlich angeordnet, dass alle Juden Rom verlassen müssten. Diesen beiden schloss er sich an, 3 und da sie das gleiche Handwerk betrieben, blieb er bei ihnen und arbeitete dort. Sie waren Zeltmacher von Beruf.

(Apg 18, 2-3)

Doch im Schreiben war er keineswegs ein Anfänger. Er war Jude, jedoch griechisch gebildet, und hatte bei einem der berühmtesten Gelehrten seiner Zeit gelernt – dem Rabbi Gamaliël. Das belegt auch das folgende Zitat:

3 Ich bin ein Jude, geboren in Tarsus in Kilikien, hier in dieser Stadt erzogen, zu Füßen Gamaliëls genau nach dem Gesetz der Väter ausgebildet, ein Eiferer für Gott [ . . . ] .

(Apg 22, 3)

Wer war eigentlich Gamaliël? Er gehörte zu den bekanntesten jüdischen Gelehrten des 1. Jahrhunderts. Er lebte in Jerusalem – genau dort, wo Paulus seine rabbinische Ausbildung erhielt. Deshalb ist es historisch plausibel, dass die Behauptung des Lukas in der Apostelgeschichte (Apg 22,3) zutrifft.

Was bedeutete es damals, Schüler eines Hochgelehrten zu werden? Im Kern hieß es, die hebräische Bibel zu studieren, vor allem aber die Kunst der Argumentation zu erlernen. Rabbiner schulten ihre Schüler im dialektischen Denken, im Debattieren und in der Schriftbeweisführung. Paulus erhielt zwar eine rabbinische Ausbildung (höchstwahrscheinlich in Jerusalem), doch aufgewachsen und sozial geprägt wurde er in Tarsus – einer griechischen Stadt. Darum ist klar erkennbar, dass er auch kulturell stark hellenistisch beeinflusst war. Er kannte sowohl die Philosophie als auch die Rhetorik des Hellenismus, was ihm später im Umgang mit anderen Kulturen – und insbesondere mit den ersten Christen – sehr zugutekam.

Seine Kenntnisse beider Kulturen – der hellenischen wie der jüdischen – halfen ihm dabei, seine Arbeit als Missionar außergewöhnlich wirkungsvoll zu gestalten. Die Reisen in den Osten Europas, auf denen er die ersten christlichen Gemeinden gründete, gaben ihm eine starke spirituelle Kraft, die ihn später befähigte, die jahrelange Gefangenschaft in Rom zu ertragen.

Paulus’ literarische Briefgattung

Durch seine erstklassige Ausbildung, seine Herkunft und seinen jüdischen Hintergrund sowie durch seine mystische Begegnung mit Jesus (Apg 9,1–18) verfügte Paulus über genügend Argumente, um sich sowohl in theologischen Themen als auch in der Darstellung von Argumentationslogik kompetent und präzise zu äußern. Die Briefgattung der Antike war dabei eine Art Halbdialog. Paulus behandelt darin Themen und Ereignisse, deren Bedeutung für die ersten Gemeinden oft existenziell war. Auf diesem Weg spricht er Probleme oder Herausforderungen der Gemeinden an, beantwortet sie im Anschluss oder gibt Ratschläge und verknüpft diese stets mit der Lehre Jesu Christi.

Durch diese besondere Eigenschaft der Briefgestaltung – der Halbdialog, bei dem der zweite Gesprächspartner abwesend ist – konnte der Absender seine Argumente in einem breiten Spektrum entwickeln und vertiefen. Auch in den paulinischen Briefen zeigt sich deutlich der Einfluss seiner Ausbildung bei Gamaliël. So verwendet Paulus häufig die Methode von These und Antithese, etwa beim Gegensatz von Gesetz und Glaube (Röm 3–4). Gleichzeitig nutzt er Gleichnisformen oder Metaphern, ähnlich wie Jesus in seinen Begegnungen mit den Aposteln. Ein bekanntes Beispiel dafür findet sich in 1. Korinther: der Läufer im Stadion:

24 Wisst ihr nicht: Die im Stadion laufen, die laufen alle, aber nur einer empfängt den Siegespreis? Lauft so, dass ihr ihn erlangt. 25 Jeder aber, der kämpft, enthält sich aller Dinge; jene nun, damit sie einen vergänglichen Kranz empfangen, wir aber einen unvergänglichen. 26 Ich aber laufe nicht wie ins Ungewisse; ich kämpfe mit der Faust nicht wie einer, der in die Luft schlägt, 27 sondern ich schinde meinen Leib und bezwinge ihn, dass ich nicht andern predige und selbst verwerflich werde.

(1. Korinther 9, 24-27)

Er führt den Leser ins Thema ein und weckt die Aufmerksamkeit bereits mit einem kurzen Satz. Beispielsweise spricht er in 2. Thessalonicher über eine Tatsache, von der er annimmt, dass die Gemeinde sie bereits kennt:

Ihr selbst wisst, wie man uns nachahmen soll. Wir haben bei euch kein unordentliches Leben geführt.

(2. Thessalonnicher 3, 7)

Paulus geht davon aus, dass die Gemeinde bereits über bestimmte Kenntnisse verfügt. Diese Annahme bildet den Ausgangspunkt für die Entfaltung der behandelten Problematik. Die Verwendung literarischer Mittel ist dabei kein Zufall, sondern das Ergebnis seiner Ausbildungszeiten in Tarsus und seiner Lehre bei dem Hochgelehrten in Jerusalem.

Die Berufung des Apostels

Paulus, durch Gottes Willen berufener Apostel Christi Jesu [ . . . ].

(1. Korinther 1,1)

Die oben erwähnte paulinische Selbstvorstellung wiederholt sich in mehreren Briefen: 1. Korinther 1,1; 2. Korinther 1,1; Epheser 1,1 und Kolosser 1,1. Doch welche Bedeutung hat sie? Die ersten Wörter der Begrüßung zeigen uns im rein theoretischen Sinne, dass die Aktion – in diesem Fall „zum Apostel Jesu Christi berufen worden zu sein“ – anonym bleibt. Im Prädikat „durch Gottes Willen“ wird jedoch deutlich, dass Gott selbst als Ursache und Autor der Berufung verstanden wird.

Eine weitere mögliche Perspektive ist die Bekehrung des Paulus auf dem Weg nach Damaskus (Apg 9,1–18), bei der er vom Christenverfolger zum Knecht Christi wurde. Dieses Ereignis war den ersten christlichen Gemeinden gut bekannt und markierte einen entscheidenden Wendepunkt in der Geschichte des Christentums. Sie betrachteten Paulus fortan als Missionar von großer Bedeutung – vergleichbar mit einem Apostel Jesu selbst. Paulus arbeitete eng und intensiv mit einigen Aposteln Jesu zusammen. Experten können nicht genau sagen, wie viele es waren, doch er selbst berichtet darüber im Brief an die Galater:

Drei Jahre später ging ich nach Jerusalem hinauf, um Kephas kennenzulernen, und blieb fünfzehn Tage bei ihm.

(Galater 1, 18)

Das Bibelwort erwähnt eine Begegnung zwischen Petrus – Kephas im örtlichen Dialekt – und Paulus. Der zweite Apostel, dem er begegnete, war Johannes, wie er vom Apostelkonzil in Jerusalem berichtet (Gal 2,1–9). Sicherlich traf Paulus auch die übrigen Apostel, doch sie werden nicht namentlich erwähnt. Die Grundbedeutung von „durch den Willen Gottes Apostel Jesu Christi berufen zu sein“ liegt darin, dass seine Bekehrung eine andere Ursache hatte – nämlich Gott selbst. Durch ein Wunder wurde er zunächst geblendet und später von Hananias geheilt, wodurch sich sein Apostolat deutlich von anderen unterscheidet.

Gnade als Zentralpunkt der paulinischen Philosophie

Das Wort Gnade wiederholt sich in vielen Briefen des Paulus. Ob als Begrüßung oder zur Erläuterung eines Konflikts – der Begriff ist stets präsent und trägt eine subtile Bedeutung für das Leben der Gemeinden. Der selbsternannte Apostel Jesu Christi betrachtet Gnade in unterschiedlichen Aspekten als Quelle der Liebe, die in allen Christen lebendig ist und sich als konkrete Tat der Nächstenliebe zeigen kann. Sie wirkt wie eine transformierende Kraft innerhalb der Gemeinde.

In 2. Korinther, Kapitel 8 und 9, geht es um die Sammlung von Geld für die arme Gemeinde in Jerusalem. Paulus organisierte, wie aus seinen Briefen, geschichtlichen Dokumenten und Zeugen hervorgeht, eine überregionale Geldsammlung in seinen Gemeinden in Mazedonien und Galatien zugunsten der notleidenden Christen in Jerusalem. Zu dieser Zeit litt Judäa unter einer Hungersnot (wie auch andere historische Quellen, z. B. Josephus, belegen), und die Gemeinde war nicht nur verfolgt, sondern musste sich auch um viele Bedürftige kümmern. Im Grunde wollte Paulus durch diese Aktionen das Solidaritätsgefühl zwischen Heidenchristen (seinen Gemeinden) und Judenchristen (der Gemeinde in Jerusalem) stärken und ein Band der Gemeinschaft aufbauen.

1 Wir berichten euch jetzt, Brüder und Schwestern, von der Gnade, die Gott den Gemeinden Mazedoniens erwiesen hat. 2 Während sie durch große Not geprüft wruden, verwandelten sich ihre übergroße Freude und ihre tiefe Armut in den Reichtum ihrer selbstlosen Güte. 3 Ich bezeuge, dass sie nach Kräften und sogar über ihre Kräfte spendeten, ganz von sich aus.

(2. Korinther 8, 1-3)

In diesem Fall dient die Gemeinde in Mazedonien als Vorbild, indem sie trotz eigener Armut großzügig handelt. Geben wird in der paulinischen Philosophie als Ausdruck der Gnade Christi verstanden. Für die jungen Gemeinden bedeutete diese Geldsammlung einen zentralen Grundstein ihrer frühchristlichen Identität.

Paulus arbeitete über zehn Jahre an diesem Projekt. Die Sammlung begann etwa im Jahr 48/49 n. Chr., was in Galater 2,10 belegt ist. Darauf folgte die organisatorische Phase (1. Korinther 16, ca. 54/55 n. Chr.), anschließend die intensive Phase der Geldsammlung (2. Korinther 8–9, ca. 55/56 n. Chr.) und schließlich die Übergabe, die im Brief an die Römer dokumentiert ist:

25 Doch jetzt gehe ich nach Jerusalem, um den Heiligen einen Dienst zu erweisen. 26 Denn Mazedonien und Achaia haben beschlossen, eine Sammlung als Zeichen ihrer Gemeinschaft für die Armen unter den Heiligen in Jerusalem durchzuführen. 27 Ja, das haben sie beschlossen und sie sind auch deren Schuldner. Denn wenn die Heiden an ihren geistlichen Gütern Anteil erhalten haben, so sind sie auch verpflichtet, ihnen mit irdischen Gütern zu dienen.

(Römer 15, 25-27)

Die Aktion gilt als Symbol der Einheit zwischen Heiden- und Judenchristen. Paulus betrachtet dieses langfristige Großprojekt als eine Gestalt der Gnade. Die Großzügigkeit der Heidenchristen zeigt sich in Gnade, Dankbarkeit und Geben. Sowohl die Gabe selbst als auch die Sammlung insgesamt sind Ausdruck wahrer Gemeinschaft und zugleich ein Zeichen dafür, dass Paulus’ Gemeinden die Herkunft des Christentums in Jerusalem anerkennen.