Wir feiern in diesem Jahr den Künstler und Schriftsteller Jimmie Durham (1940–2021) mit einer Einzelausstellung zum Thema Kunst und wissenschaftliches Denken. Unsere Zusammenarbeit mit Durham begann vor fünfundzwanzig Jahren im September 2000 mit einer Ausstellung seiner Videos und Zeichnungen. Seither richteten wir fünf Einzelausstellung mit und über Durham aus und veröffentlichten seine Gedichtbände Poems that do not go together (2012) und Particle/Word theory (2020) sowie den Vortrag The usual song and dance routine with a few minor interruptions (2013), den er 2010 in Glasgow hielt.

Die Idee zur aktuellen Ausstellung Art and science are the same thing.1 diskutierten Jimmie Durham und Barbara Wien 2020 während der Arbeit an Durhams Buch Particle/Word theory, in dem die Welt der Wissenschaften überall präsent ist. Ein Gedicht ist der österreichischen Kernphysikerin Lise Meitner, ein anderes dem brasilianischen Mathematiker Arturo Avila gewidmet. Im Gedicht Apocalypsis or The dragon in her cave finden sich Sätze wie „Hypothalamic pro-opiomelanocortin (POMC) neurons promote satiety“, ein wörtliches Zitat aus einem Artikel, der im Wissenschaftsmagazins nature erschienen war. Auch die 18 Autoren des Artikels sind im Gedicht erwähnt. Darauf folgen Passagen über Durhams persönliche Erfahrung von Schmerz: My feelings are indescribable. / Many of my feelings are indescribable. / The physiotherapist asked me to describe my pain on a scale of one to ten, / And if it was sharp, dull or pulsing. / It seems there may be no way / Of moaning eloquently / Yet many man-made musical instruments / Are capable / In the right hands.2

Was uns bei der Herausgabe von Particle/Word theory 2020 besonders beschäftigte, war die Frage, warum der Einfluss der Wissenschaften auf die Kunst nicht intensiver untersucht und oft gar nicht wahrgenommen wird. Es bleiben dadurch viele Konzepte von Künstlern unbeachtet, die die bahnbrechenden Erkenntnisse der Naturwissenschaften der letzten Jahrhunderte – sei es in Biologie, Chemie oder theoretischer Physik – reflektieren. Wir sprachen damals viel über das Werk von Marcel Duchamp, das von Herbert Molderings neu interpretiert wurde,3 und unterhielten uns ausführlich über die Arbeit von Tomas Schmit. Schmit und Durham lernten sich 1999 in Berlin kennen. Beide zeichneten und schrieben literarische und wissenschaftlich-philosophische Texte; beide hatten die großartige Fähigkeit, schwierige Sachverhalte mit Leichtigkeit und Ironie zu vermitteln.

Nun, fünf Jahre nach diesen Gesprächen mit Durham, der 2021 in Berlin gestorben ist,4 stellen wir Werke vor, die diese Diskussion wieder aufnehmen und den Bezug zur Wissenschaft bei Durham beispielhaft zeigen. Dazu haben wir Arbeiten aus den Jahren 1989 bis 2020 zusammengetragen, unter anderem die Skulpturen The Aharonov-Bohm effect (1989) und Heisenberg’s principle (1989), einen Tisch mit Objekten, Materialien und Textlabels mit dem Titel Various shapes and material (2009), die Wandinstallation Electric (1995), elf Zeichnungen aus dem Jahr 2013 und sieben Zeichnungen, die für die Vorzugsausgabe des Buches Particle/Word theory im Jahr 2020 entstanden sind.

In Heisenberg‘s principle (1989) geht es im weitesten Sinne um die Quantentheorie von Werner Heisenberg, die auf die Spezielle Relativitätstheorie von Albert Einstein folgte. Durham nimmt die Diskussion um die Heisenbergsche Unschärferelation und Schrödingers Katze auf und versieht eine schwarze Box mit dem Textlabel: „Werner Heisenberg explained his ‚Uncertainty Principle‘ by saying that if you have a kitten in a box it is neither alive nor dead. Until you open the box the kitten is only potentially alive or dead.”

In der Wandskulptur The Aharonov-Bohm effect (1989) visualisiert Durham eine Entdeckung, die im Magazin New scientist als eines der „Sieben Wunder der Quantenwelt“ beschrieben wurde. Der AharonovBohm-Effekt ist ein Phänomen in der Quantenmechanik, bei dem geladene Teilchen von einem elektromagnetischen Feld beeinflusst werden, obwohl sie sich ausschließlich im feldfreien Raum bewegen. Durham beschreibt dieses unerklärliche Phänomen auf einer Texttafel und spekuliert: As though the electrons ‚sense‘ the hidden presence of the magnet, scientists assume that there is a more fundamental force of magnetism.

1995 entstand die Installation Electric, in der Durham über eine ganze Wand verteilt Kabel, Holz- und Metallstücke sowie eine Langustenschere miteinander verbindet. Das Werk steht im Zusammenhang mit anderen raumgreifenden Kabelinstallationen, die unter anderem in Museen wie dem M HKA in Antwerpen zu den Glanzstücken der Sammlung zählen.

Aus den 90er-Jahren stammen die Assemblage These almost fit (1993), die in vielen Katalogen Durhams als Paradebeispiel für seine Material- und Wortkombination beschrieben wird, und die Skulptur Core sample from Stockholms Kulturhus, Core sample from Stockholms Moderna Museet (1997), die aus drei Bohrkernen besteht. In der ersten Arbeit wird mit Nachdruck behauptet, Teile einer Muschel würden ‚fast passen‘, wobei der Sinn der Operation offengelassen wird. Paradox erscheinen auch die an Gegenstände geologischer Forschung erinnernden Gesteinsproben der Kulturinstitutionen in Stockholm. Durham erreicht damit eine gewisse Verunsicherung, denn man fragt sich beim Betrachten unwillkürlich: Was ist wahr? Was ist objektiv? Was ist eine sinnvolle Kategorisierung?

Die Tischvitrine Various shapes and materials (2009) ist ein Hauptwerk von Durham, das seine Leidenschaft für das Sammeln und Ordnen von Materialien bezeugt. Die Vitrine enthält Fundstücke, die Durham meist auf der Straße ins Auge fielen. Es sind an sich wertlose Dinge, die eine neue Aufmerksamkeit erhalten. Das Weggeworfene wird wie etwas Wertvolles präsentiert. Als Squarish things werden ein Taschenalarmgerät, ein Schlüsselanhänger oder geprägte Lederstücke bezeichnet; daneben finden sich zwei getrocknete Hautfetzen mit dem Label Shark skin from Mexico; Things of similar shape with holes sind Garnrollen oder siebartige Metallstücke mit Löchern.

In den elf Zeichnungen von Untitled (2013) geht es um statistische Kurven. Die Zeichnungen haben diese Titel: On a scale of one through ten, Recalcitrant trends, Ill wind, Seven lines indicating various colors and trends, The turquoise line is probably indicative, Red and blue meeting, water, lightning and anger, Clearly, not everything functions, Indications of the frequent escape mechanisms of clarity, From normality... und More a process than a beginning and an end. Die Zeichnungen sind Parodien auf statistische Untersuchungen. Durhams Zweifel am Sinn von wissenschaftlichen Statistiken ist auch in seinem Text zu Stone heart nachzulesen, dort zitiert er den Architekten Yona Friedman: The statistical method is the main tool of science today. But statistics only provide correct answers to irrelevant questions.5

Was ist nun Durhams besondere Haltung zur Wissenschaft? Was zeichnet sie aus?

Durham sieht wissenschaftliche Methoden nicht getrennt von seiner Arbeit als Künstler. Wenn man seine Bücher und Interviews studiert, wird klar, dass er seine Arbeit als Künstler mit der eines Wissenschaftlers gleichsetzt. Er sieht sich als Analytiker, Beobachter und Theoretiker, der bereit ist, die Konzepte infrage zu stellen, mit denen die Welt – auch Kunst und Kultur – erklärt wird. Diese Fähigkeit, die eigenen konzeptionellen Grundlagen zu verändern und alles neu zu entwerfen, verbindet die Wissenschaft und die Kunst.6 In seinem genialen Buch Between the furniture and the building (Between a rock and a hard place). Zwischen Mobiliar und Haus (Im Gestein der Zwickmühle) erklärt er: I often describe myself as a theoretical biologist, which is not like a theoretical physicist, but almost the same. I like to think about biology and make up theories about biology. I do not have to know anything. I just have to think about things. I think there is not a division between art and science. Art and science are the same thing.7

Analytisches Denken, Fragen und Experimentieren gehören wesentlich zum Menschsein. Immer wieder kreisen Durhams Texte um diese Überzeugung. Besonders deutlich wird er in einem Interview mit dem Direktor des Brüsseler Wiels, Dirk Snauwaert, der ihn fragt, warum er so viele schwierige wissenschaftliche Bücher lese. Durham antwortet: … science as an analytical concept of questioning and experimenting, and saying, let’s see, how does this work and what happens here, that’s genius, that’s what humans are about. If we don’t do that, we’re not doing a human project, I think. Our project is not to believe, not to find answers, it’s to be analytical, to do experiments that should lead us to the next experiment, it shouldn’t lead us to a cheap answer. And that’s why I love science; it’s so scientific. It’s not European, it doesn’t belong to white people, it’s a human thing. I don’t want art to be separated from other parts of life, and I also don’t want science to be separated from other parts of life.8

(Text von Barbara Wien)

Notizen

1 Jimmie Durham, Between the furniture and the building (Between a rock and a hard place). Zwischen mobiliar und haus (Im gestein der zwickmühle), Verlag der Buchhandlung Walther König, Köln 1998, erschienen zu den Ausstellungen im Kunstverein München und in der daadgalerie, Berlin, S. 47.
2 Jimmie Durham, Particle word/Theory, Wiens Verlag und Edition Hansjörg Mayer, Berlin und London 2020, o. S.
3 Herbert Molderings, Marcel Duchamp. Parawissenschaft, das ephemere und der skeptizismus, Qumran, Frankfurt a. M., Paris 1983; und Herbert Molderings, Über Marcel Duchamp und die ästhetik des möglichen, Verlag der Buchhandlung Walther König, Köln 2019.
4 Nach dem Tod von Durham im November 2021 veranstaltete die Galerie Barbara Wien im Januar 2022 eine Hommage an den Künstler, die die literarischen Texte und Lectures von Durham zum Thema hatte. Siehe hierzu die Ausstellungsbesprechung „After Jimmie Durham“ von Jess Chen in: Texte zur kunst, Nr. 126, Juni 2022, S. 208–211.
5 Jimmie Durham, „Stone heart“, 2000, zitiert aus: Jimmie Durham, Waiting to be interrupted. Selected writings 1993–2012, Mousse Publishing und M HKA, Mailand und Antwerpen 2014, S. 219.
6 Hilfreiche Gedanken zu diesem Thema stehen in dem Buch Helgoland. Wie die quantentheorie unsere welt verändert von Carlo Rovelli, Rowohlt, Hamburg 2021, z. B. S. 11.
7 Jimmie Durham, Between the furniture and the building (Between a rock and a hard place). Zwischen Mobiliar und Haus (Im Gestein der Zwickmühle), s. o., S. 47.
8 „Dirk Snauwaert in conversation with Jimmie Durham“, in: Jimmie Durham, Phaidon, London, New York 1995, 2. überarbeitete und erweiterte Auflage 2017, S. 25.