Wehe dem Land, das seine Philosophen und Historiker ignoriert! Deutschland hat das in der Weimarer Republik getan und im Zweiten Weltkrieg mit der Zerstörung des Landes bezahlt. In den Vereinigten Staaten von Amerika denken viele, ihr Land sei für Vergleiche mit Erfahrungen dieser Art nicht geeignet. Die Illusion, einzigartig zu sein, hat sich in der Theorie des amerikanischen Exzeptionalismus verfestigt. Sie untermauert das Selbstbewusstsein der Amerikaner und ist insofern nützlich. Aber sie ist zugleich auch eine Schwäche, denn sie macht die USA schwerhörig für historische Warnsignale.
Es ist aber nicht ganz falsch, zu denken, was in anderen Ländern passiert ist, ist bei uns nicht möglich. Die Geschichte wiederholt selten genau das, was anderswo geschah. Sie eröffnet eher neue Abgründe. Und das tut sie immerzu. Es ist daher nicht die Wiederholung desselben Absturzes, sondern die Wahrscheinlichkeit in einen genuin neuen Abgrund zu stürzen, warum es angesagt ist, historische Warnungen zu bedenken, anstatt zu ignorieren.
Abgründe, die sich auftun könnten, deuten sich oft in den Alpträumen der kritischen Beobachter einer Gesellschaft an. Historiker und Philosophen sind natürlich nicht die einzigen, die Wache stehen. Viele Journalisten und Blogger, Beeinflusser und Evangelisten, traditionelle und neue Medien kommen hinzu. Kein Wunder also, dass die meisten Propheten erstmal in der Brandung der kommentierenden und voraussagenden Meinungsvielfalt untergehen. Das ist das Los der Propheten. Der Alptraum, der sich bewahrheitet, ist die Ausnahme. Er taucht wieder auf, hat an Schärfe zugenommen, und verlangt Gehör.
Der amerikanische Philosoph Richard Rorty hat 1998 in Anlehnung an den rumänisch-amerikanischen Militärstrategen und Politologen Edward Luttwak einen solchen Alptraum in seinem Buch Achieving Our Country (Die Verwirklichung unseres Landes) beschrieben. Anfangs fielen Luttwaks und Rortys Worte auf taube Ohren. Nach dem Wahlsieg von Donald Trump im Jahre 2016 hier und da nicht mehr.1 Und nun, nach Trumps vermeidbarer Wiederwahl, stellt sich erneut die alte Frage nach dem Lernen aus der Geschichte: Besteht die Möglichkeit, aus der Bewahrheitung sozialer Alpträume Lehren für die Zukunft zu ziehen?
Der wahre Alptraum
Zunächst aber erst einmal der Text der Vorhersage, die sich mit der zweimaligen Wahl Trumps doppelt bewahrheitet hat. Rorty kündigte die Gefahr einer populistischen Machtübernahme durch einen Starkmann2 in einer Passage seines Buchs an. Die Prophezeiung des Philosophen kam in vier Paragrafen zum Ausdruck:
„Viele Autoren über Sozial- und Wirtschaftspolitik haben davor gewarnt, dass die alten industrialisierten Demokratien auf eine Periode ähnlich der Weimarer Zeit zusteuern, in der populistische Bewegungen die verfassungsmäßige Gewalt stürzen könnten. So meint Edward Luttwak, dass der Faschismus Amerikas Zukunft sein könnte.3 Die Quintessenz seines Buches The Endangered American Dream (Der gefährdete amerikanische Traum) geht dahin, dass Gewerkschaftsmitglieder und nichtorganisierte ungelernte Arbeiter früher oder später erkennen werden, dass ihre Regierung nicht einmal versucht, etwas gegen sinkende Löhne oder den Export von Arbeitsplätzen zu tun. Etwa gleichzeitig würden sie erkennen, dass die bessergestellten Angestellten – die selbst die größte Angst vor einem Abstieg haben – keine höheren Steuern für Sozialleistungen an andere akzeptieren werden."
"An diesem Punkt werde es einen Bruch geben. Die ärmeren Wähler würden zu dem Schluss kommen, dass das System versagt habe, und einen starken Mann wählen wollen, der ihnen verspricht, dass unter ihm die feinen Bürokraten, raffinierten Anwälte, überbezahlten Anlageberater und postmodernistischen Professoren nicht mehr das Sagen haben werden. Dann könne es zu einem Verlauf kommen wie in Sinclair Lewis' Roman It Can't Happen Here (Das ist bei uns nicht möglich). Denn wenn einmal ein solcher starker Mann im Sattel sitzt, könne niemand voraussehen, was passiert. 1932 waren die meisten Voraussagen darüber, was geschehen würde, wenn Hindenburg Hitler zum Kanzler ernennen würde, maßlos überoptimistisch."
"Eines dürfte sehr wahrscheinlich geschehen: Die Fortschritte der schwarzen und braunen Amerikaner und der Homosexuellen in den letzten vierzig Jahren würden weggefegt. Man würde wieder witzelnd verächtlich über Frauen reden. Die Wörter „Nigger“ und „Itzig“ würden wieder am Arbeitsplatz zu hören sein. Der ganze Sadismus, den die akademische Linke für ihre Studenten unannehmbar machen wollte, würde zurückfluten. Die ganzen Ressentiments, die Amerikaner mit schlechter Schulbildung dagegen haben, dass ihnen die Akademiker gute Sitten vorschreiben wollen, würden ein Ventil finden."
"Doch eine solche Wiederkehr des Sadismus würde die Auswirkungen des Egoismus nicht ändern. Denn mein hypothetischer starker Mann würde sich rasch mit den internationalen Superreichen arrangieren, genau wie Hitler mit den deutschen Industriellen. Er würde im ruhmreichen Gedenken an den Golfkrieg militärische Abenteuer vom Zaun brechen, die eine kurzzeitige Wirtschaftsblüte nach sich ziehen. Er wäre eine Katastrophe für das Land und die Welt. Die Menschen würden sich fragen, warum sein vermeidbarer Aufstieg auf so wenig Widerstand gestoßen war. Wo, so würden sie fragen, war die amerikanische Linke? Warum haben nur Rechte wie Buchanan4 zu den Arbeitern über die Folgen der Globalisierung gesprochen? Warum konnte die Linke die wachsende Empörung der neuerlich Verarmten nicht kanalisieren?“5
Donald Trump
Die Entscheidung, die Rorty vor mehr als einem Vierteljahrhundert in der amerikanischen Zukunft liegen sah, ist gefallen. Es ist zum Bruch der ärmeren Wähler mit der etablierten Ordnung des Landes gekommen und die Wahl eines Starkmanns hat stattgefunden. Die allgemeine Frage – Wie konnte das passieren? – sowie die gezielten Fragen am Ende von Rortys hellsichtigen Überlegungen sind einfach zu beantworten. Die amerikanische Linke, in die der Philosoph seine Hoffnung setzte, hatte andere Interessen entwickelt und lebte längst nicht mehr im Abseits, sondern komfortabel im akademischen Milieu.
Für Bürger mit sicheren Arbeitsplätzen, höherem Einkommen und guter Schulbildung war die Schattenseite der ökonomischen Globalisierung kein reales Problem und kaum ersichtlich. Postmodernistische Professoren konnten aus der Globalisierung sogar intellektuelle Funken schlagen und sich um abstrus scheinende Dinge wie politisch korrekte Pronomen kümmern. Jeder, der wie Bertolt Brechts Mackie Messer im Dunkeln zuhause war, wusste das natürlich: „Denn die einen sind im Dunkeln / Und die anderen sind im Licht. / Und man siehet die im Lichte / Die im Dunkeln sieht man nicht.“ Oder andersherum: Die im Lichte angesiedelten Bürger sahen wenig und fühlten nichts von dem, was die ökonomische Globalisierung im Schattendasein anrichtete.
Trump hatte früh auf die Wut der Verlierer im Gewinnspiel der Globalisierung gesetzt. In Hillary Clintons „Bedauernswerten“ (engl. deplorables) hatte er seine Stossmacht erkannt. Und jetzt, nach seiner erneuten Amtseinführung am 20. Januar 2025, verwirklicht er Rortys Alptraum mit ungeheurem Nachdruck und über alle Maßen hinaus.
Dazu kommt, dass Trump und seine Regierungshelfer die politische Polarisierung der USA in einer Weimar-ähnlichen Weise verschärfen; dass sie das Interesse ihrer populistischen Bewegung gegen Ein- und Zuwanderer ohne Rücksicht auf die Gebote der amerikanischen Verfassung verfolgen; und dass sie so brutal wir möglich gegen alle vorgehen, die sie zu inneren und äußeren Feinden des Präsidenten (und in ihren Augen Amerikas) deklariert haben. Dazu gehört auch, dass Trump die ultranationalistischen Werte des Faschismus einschließlich dessen Anti-Intellektualismus, Autoritarismus, Sozialdarwinismus, und Expansionismus ohne Umschweife zum Ausdruck bringt; und dass er die ihm zugelaufenen Milliardäre sowie diejenigen Unternehmen bevorrechtet, die seinen Wünschen und Diktaten Folge leisten.
Was allerdings vom Alptraum nicht antizipiert wurde, ist, dass Trump die miserable Erfahrung der amerikanischen Industriearbeiter – die Auslieferung ihrer Arbeitsplätze an Billiglohnländer – nicht nur seit langem zur Sprache gebracht, sondern jetzt auch zum Angelpunkt seiner kriegerischen Handelspolitik im Sinne von MAGA6 gemacht hat. Wie alles, was Trump anfasst, ist die Absicht, die USA als industriellen Standort zu revitalisieren, natürlich in erster Linie egoistisch und darauf angelegt, seine Wähler bei der Stange zu halten. Trotzdem, die Kampfansage gegen den Export industrieller Arbeitsplätze und für ihre Rückführung oder Neueinrichtung im Lande, geht darüber hinaus. Sie artikuliert ein legitimes politisches Ziel. Mit anderen Worten: Trumps anti-Globalisierungs-Politik dient an und für sich einer guten Sache.
Erste Starkmann Bilanz
Nun muss man sich allerdings fragen, was bringt es, wenn man jemanden wie Trump im Einzelnen betrachtet und dann nicht alles schlecht findet? Hitler und Stalin haben ja auch in beschränkter Hinsicht „Gutes“ getan, zum Beispiel Autobahnen gebaut und die Sowjetunion industrialisiert. Starkmänner sind aus einem Guss. Sie lassen es nicht zu, einzelne Aspekte aus ihrer Gesamtheit herauszulösen. Man bekommt sie nur als Ganzes. Wir müssen sie deshalb auch in ihrer Ganzheit beurteilen. Zum Gesamtbild der von Trump angeführten Umwertung aller zivilen Normen und Traditionen der Vereinigten Staaten gehört die Restauration traditioneller Vorurteile gegen Frauen, Homosexuelle, braune und schwarze Amerikaner. Ein sadistischer Höhepunkt war die im April dieses Jahres im Fernsehen verbreitete Choreografie der Abschiebung kahlgeschorener Venezolaner in ein berüchtigtes Hochsicherheitsgefängnis in El Salvador.
Eine Renaissance der Vorurteile gegen Juden, die der Alptraum ebenfalls voraussah, ist derzeit nicht erwünscht. Auch das ist eigentlich eine gute Sache, obgleich der anti-Antisemitismus der Trump Regierung vor allem ein Instrument gegen pro-palästinensische Studentenproteste ist. Diese selbst sind wiederum nur indirekt von Belang, nämlich als eine günstige Gelegenheit, liberalen amerikanischen Eliteuniversitäten wie der Columbia Universität in New York das Fürchten zu lehren. Letzteres – die staatliche Sabotage hervorragender amerikanischer Forschungsuniversitäten – wird Amerika nicht größer, sondern kleiner machen.
Und wenn man außerdem in Rechnung stellt, was alles neben der erfolgreich bewerkstelligten, enormen Machterweiterung des Präsidenten lokal und global in den ersten Monaten von Trumps zweiter Amtszeit klar geworden und geschehen ist (abgesehen von der „gut gemeinten“ aber inkohärenten Zollpolitik), dann muss man Trump und den Trumpismus, wie im Alptraum vorhergesagt, insgesamt als eine Katastrophe für Amerika und die Welt bezeichnen.
Trumps negative Bilanz umfasst in nationaler Hinsicht:
die konstante Umgehung der Rechtsstaatlichkeit durch nicht-verfassungsgemäße Aktionen und Verfügungen,
die Besetzung von Kabinettsposten und Regierungsämtern mit Loyalisten ohne Rücksicht auf notwendige Kompetenzen,
die Betrauung Elon Musks mit der Durchführung einer radikalen Regierungsreform unter Absehung von den Interessenkonflikten des Milliardärs,
die informelle Einflussnahme von Verschwörungstheoretikern wie Laura Loomer über wichtige Personalentscheidungen,7 und
die Unterminierung wissenschaftlicher Expertise durch die Bevollmächtigung von Umweltschutz-, Klimawechsel-, und Impfstoff-Skeptikern wie Robert Kennedy.
Trumps vorläufige Bilanz in internationaler Hinsicht ist noch belastender. Ihre Einträge verweisen auf Regierungspolitiken, die von globaler Reichweite sind, weit mehr Menschen als nur die Amerikaner betreffen, und grundsätzlich darauf angelegt sind, demokratische Strukturen mit autokratischen und illiberalen Praktiken zu unterminieren. Sie verzeichnet unter anderem:
die hochrangige Unterstützung aller populistischen europäischen Parteien einschließlich der rechtsradikalen deutschen AfD durch Musk, Stephen Bannon, und den Vizepräsidenten der USA, J.D. Vance,
die öffentliche Abkanzelung des Präsidenten der Ukraine, Wolodymyr Selenskyj, Ende Februar durch Trump und Vance im Oval Office des Weißen Hauses und anschließende Verleumdung Selenskyjs als „Diktator“ ohne Wahlen,
die Kehrtwendung von der starken Unterstützung der Ukraine zur Übernahme der Putinschen Propagandalüge, die der Ukraine die Verantwortung für die russische Invasion zuschreibt,
die Schwächung der westlichen Demokratien durch Trumps Austausch von Freundschaftserklärungen mit Putin und gleichzeitige Distanzierung von Europa durch Infragestellung des fortwährenden amerikanischen Interesses am Atlantischen Bündnis (NATO),
die wiederholte Ankündigung territorialer Ansprüche der USA auf Grönland, Kanada, Panama, und Gaza, und damit die indirekte Akzeptanz russischer, chinesischer, und amerikanischer Einflusssphären,
die mutwillige Zerstörung des politischen und wirtschaftlichen Vertrauenskapitals der USA durch wilde Zollkriege, die den Unterschied zwischen Freunden und Feinden Amerikas negieren und das Land unberechenbar machen.
Für Trump hat sich die Unberechenbarkeit ausgezahlt und als persönliche Stärke gegen Widersacher erwiesen. Aber für Amerika und die Welt ist sie eine Einladung zur Katastrophe.
Retrospektive Prophetenabschätzung
Warum haben die politischen Eliten der USA zu Beginn der Trump Ära 2016 verpasst, was ein amerikanischer Denker schon 1998 kommen sah? Alle hörten Trumps dunkle Tiraden, sahen seine demagogischen Auftritte, schüttelten den Kopf über das gemeine Volk seiner Anhänger und taten das Ganze als den Zirkus ab, der gelegentlich auftaucht und dann weiterzieht. Aber das tat er nicht, im Gegenteil. Trump und der Trumpismus haben in einem doppelten Anlauf das Mitte-Links- und Mitte-Rechts-Establishment beider Parteien überwältigt. Die alten Eliten sind entmachtet. Trumps Republikaner kotauen vor ihrem Starkmann und die Demokraten wissen weder ein noch aus.
Wenn wir uns fragen, was lässt sich aus solcher Ignoranz lernen, dann werden wir vermutlich nichts Weltbewegendes finden, nur die deprimierende Tatsache, dass es regelmäßig zu spät ist, wenn die Warnung „ankommt“ und Gehör findet. Vielleicht sollten wir uns weniger um die Schwerhörigen der Geschichte kümmern, die immer alle möglichen Gründe haben, den Alpträumen kein volles Gehör zu schenken, und mehr um die Luttwaks und Rortys, die ja wohl nicht umsonst von wahrheitsfähigen Alpträumen heimgesucht werden.
Was zeichnet diese Menschen aus, dass sie zurecht katastrophale Dinge auf ihre Welt zukommen sahen? Wären die Autoren wahrgewordener Alpträume nicht eine historische Studie wert? Etwas mehr darüber zu wissen, was einen verlässlichen Propheten ausmacht, wäre doch nützlich.
Anmerkungen
1 Sam Roudman: „These Academics Foresaw That Working-Class Resentment Would Lead to Trump.“ In: New York Magazine, 10. November 2016.
2 „Starkmann“ ist ein deutscher Nachname und hier ein (nicht ganz neues) Wort für den englischen Ausdruck „strongman“ – die Bezeichnung eines autoritären politischen Führers.
3 Edward Luttwak: „Why Fascism is the Wave of the Future.“ In: London Review of Books, Bd. 16, Nr. 7, April 1994. Siehe auch Edward N. Luttwak: The Endangered American Dream. How to stop the United States from becoming a third-world country and how to win the geo-economic struggle for industrial supremacy. New York, 1993.
4 Patrick Joseph (Pat) Buchanan, ein „paläokonservativer“ republikanischer Politiker und Kommentator, der gegen die „neokonservative“ Orthodoxie seiner Partei ankämpfte.
5 Richard Rorty: Stolz auf unser Land. Die amerikanische Linke und der Patriotismus (dt. Übersetzung von Achieving Our Country). Frankfurt, Suhrkamp, 1999, S. 87 f.
6 MAGA ist der Kampfschrei der Trumpisten und steht für Make America Great Again, dt. Mach Amerika Wieder Groß.
7 Siehe Maggie Haberman Jonathan Swan, und Ken Bensinger: „Trump Fires 6 N.S.C. Officials After Oval Office Meeting With Laura Loomer.“ New York Times, 3. April 2025. Siehe auch Laura Loomer in Wikipedia.