Carl von Clausewitz betont, dass der Aggressor ein Mann des Friedens ist. Er möchte nichts lieber als in sein Nachbarland einmarschieren ohne auf Widerstand zu stoßen. Sein Opfer und die Freunde seines Opfers müssen den Kampf wählen. Eine diplomatische Lösung wird erst dann für den Aggressor interessant, wenn die Aussicht auf einen militärischen Erfolg schwindet. Deshalb folgen Verhandlungen und Kompromisse auf ein militärisches Patt, nicht auf humanitäre Einsicht oder moralisierende Appelle.

Der Ausgang des Krieges hängt von drei gleichgewichtigen Faktoren ab, nämlich von:

  • der ukrainischen Leidensfähigkeit und Kampfkraft;
  • der Tauglichkeit der westlichen Unterstützung für die Ukraine (Waffenlieferungen und Finanzhilfe für Kyiv, Sanktionen gegen Russland, vor allem der Boykott von Brennstoffexporten);
  • Russlands Entscheidung, mit welcher Brutalität und wo Krieg geführt wird.

Bislang scheint die Ukraine – Bevölkerung und Regierung – entschlossen, dem russischen Aggressor zu widerstehen. Die westliche Unterstützung ist das schwächste Glied, rhetorisch zwar noch solide, wobei galoppierende Inflation, hohe Energiepreise und militärische Rückschläge früher oder später einen Sinneswandel mit sich bringen können. Unklar ist auch, ob der Westen willens ist, die Ukraine vor einer Niederlage zu bewahren, oder aber, was ein großer Unterschied ist, ihr zum Sieg zu verhelfen. Eine diesbezügliche, verlässliche Festlegung ist auch deswegen zwingend, weil bislang nur Russland seine Kriegsziele definiert hat, nämlich die:

  • Reaktion auf die Ostexpansion der NATO – wiewohl die letzte 2004 war;
  • westliche Unterstützung demokratischer Kräfte, die 2014 den prorussischen Präsidenten Janukowitsch stürzten;
  • Verhinderung eines Genozids im Donbass;
  • Eroberung des Donbass sowie des Südens der Ukraine entlang des Asowschen und des Schwarzen Meeres;
  • Heimholung ins großrussische Reich bzw. ins heilige Russland aller von Slawen bewohnten Territorien;
  • Denazifizierung der Ukraine;
  • Sturz der ukrainischen Regierung.

Selbstverständlich wäre eine diplomatische Lösung wünschbar, aber wie realistisch ist es, darauf zu setzen? Angesichts der inkohärenten Palette von russischen Kriegszielen ist unklar, wo angesetzt werden bzw. worauf genau eine westliche Deeskalationsstrategie aufgebaut werden könnte. Psychologisierende Spekulationen über russische rote Linien sollten ebenso unterbleiben wie Anrufe bei Putin, der besser isoliert wird bis er Bereitschaft signalisiert, auf der Basis der Charta der Vereinten Nationen Verhandlungen aufzunehmen, sich auf die Linien vom 23. Februar zurückzuziehen und sich an Abkommen zu halten.

Die Geschichte lehrt, dass es sinnlos ist, Angriffskriegern eine Demütigung zu ersparen. Wenn sich Russland auch nur ansatzweise als Sieger fühlen kann, wird es ein revanchistisches, dauergekränktes, paranoides Land bleiben. Wie Deutschland oder Japan 1945, braucht Russland eine schmerzliche Niederlage, eine Zäsur, um die Möglichkeit zu haben, ein normales Land zu werden. Ob ungekonnt oder ungewollt, ist Russland bislang nämlich alles andere als ein normales europäisches Land. Anstatt:

  • das hohe Bildungsniveaus seiner Bevölkerung zu nutzen, produziert Russland kaum kommerziell verwertbares Wissen; es meldet relativ weniger Patente an als Südafrika;1
  • friedlich mit Nachbarn zu koexistieren, werden Kolonialkriege geführt (seit 2014) in der Ukraine, davor in Tschetschenien und Georgien, danach in Syrien, Libyen, Zentralafrika und Mali;
  • sich zu verbessern, wie in den meisten Ländern der Welt, ist die russische Lebenserwartung rückläufig,2 eingependelt zwischen Sudan und Bhutan („am wenigsten entwickelte Länder“ im Klassifizierungssystem der Vereinten Nationen);
  • mit China Schritt zu halten, fällt Russland zurück: vor dreißig Jahren hatten beide Länder das gleiche Bruttoinlandsprodukt; heute ist das russische ein Zehntel des chinesischen, ungefähr halb so groß wie das Franzreichs, einem Land ohne Rohstoffe und einer weniger als halb so großen Bevölkerung;3
  • den russischen Bürgerinnen und Bürgern Rechtssicherheit sowie eine demokratisch abwählbare Regierung zu geben sowie die Gewinne aus dem Verkauf fossiler Brennstoffe zur nachhaltigen Erhöhung des Lebensstandards zu investieren, herrschen Putin, Ex-KGBler und eine geduldete Oligarchen Clique willkürlich – und reißen sich die Reichtümer des Landes unter den Nagel.4

Der russische Außenminister Lawrow liegt falsch, wenn er dem Westen Russophobie vorwirft. Russland hat sich selber ruiniert und zum Paria gemacht. Auf fossilen Brennstoffen, Lügen und Korruption basierend ist es weder ein resilienter Staat, noch ein vertrauenswürdiger Vertragspartner. Russland hat eine Bringschuld, unter anderem wegen:

  • des unprovozierten Angriffs auf die Ukraine;
  • der dort begangenen, systematischen Kriegsverbrechen;
  • der Verletzung des Budapester Memorandums von 1994,5 in welchem Russland die territoriale Unverletzlichkeit der Ukraine garantiert hat;
  • der unverantwortlichen Drohung mit dem Einsatz von Kernwaffen, mit dem ein seit Jahrzehnten bestehendes Tabu gebrochen wurde.

So wichtig es ist, dass die Waffen ruhen, geht es auch darum, dass Aggression nicht belohnt wird. Deshalb ist die Alternative nicht Krieg oder Frieden, sondern Gerechtigkeit und langfristige Sicherheit in Europa und der Welt. Ein fauler Kompromiss zur Erreichung eines Waffenstillstands, würde Russland die Atempause verschaffen, um wieder aufzurüsten, Kräfte zu sammeln und einen neuen Angriff zu starten, wenn sich der Westen anderen Themen zugewandt hat. Die Brutalität der russischen Kriegsführung, auch die Opferung zehntausender eigener Soldaten, legt nahe, dass der Kampf letztendlich entweder durch einen Sieg oder eine Niederlage beendet wird.

Wenn es denn um einen dreibeinigen Stuhl geht – ukrainischer Widerstandswille, westliche Unterstützung und russische Zerstörungswut – schwächelt der Westen bislang am meisten und zwar wegen einer unheiligen Mischung aus Narzissmus, welcher den Schlüssel zum Frieden eher im Westen verortet als im Kreml, und Geschäftssinn, welcher die Kosten des Krieges für zu hoch einschätzt und die fortwährenden Gaslieferungen für zu wichtig. Nach fast viermonatigem Krieg kommt mir als Völkerrechtler die Psychologisierung Russlands so seltsam vor wie als Volkswirt die Aushebelung der Marktwirtschaft.

Anstatt den Energieverbrauch drastisch einzuschränken – und Menschen mit niederem Einkommen gezielt finanziell zu unterstützen – wird weiterhin Gas aus Russland importiert, werden neue Quellen aufgetan und wird Energie künstlich verbilligt und somit verschwendet. Russlands ruchloser Feldzug wird immer noch mit höheren Beträgen bezuschusst als die Verteidigung der Ukraine. Auch wird die existentiell notwendige Dekarbonisierung verzögert. Die Opferung der Ukraine wird leichter in Kauf genommen als die Schmälerung von Komfort und Industrieproduktion, denn billiges Gas und Rasen auf der Autobahn stehen offenkundig nicht zur Disposition.

Russlands Niederlage ist wichtig als kategorische Demonstration, dass sich Aggression nicht auszahlt. Des Weiteren geht es um das Erringen einer gerechten Friedensordnung, die es Europa und der Welt ermöglicht, mit einem verlässlichen Partner Russland, die wirklich wichtigen globalen Probleme – Erderhitzung, schwindende Artenvielfalt, eine nachhaltige Wirtschaftsordnung und den ökonomischen Ausgleich in und zwischen Ländern – gemeinsam anzugehen.

Anmerkungen

1 World Intellectual Property Organization (WIPO) (2021). IP Facts and Figures 2021. Geneva: WIPO.
2 World Health Organization (WHO), The Global Health Observatory.
3 The World Bank, Gross Domestic Product, totals in current $, (2020).
4 Frederik Obermaier and Bastian Obermayer, “We were leaked the Panama Papers. Here’s how to bring down Putin’s cronies,” The Guardian, 29 March 2022.
5 Mit dem Budapester Memorandum vom; 5. Dezember 1994 gab die eben unabhängig gewordene Ukraine 1.900 nukleare Sprengköpfe auf. Die russische Regierung versicherte im Gegenzug, „die Unabhängigkeit und Souveränität der Ukraine zu respektieren und Gewalt weder anzudrohen noch anzuwenden.“