Gesellschaften zerbrechen nicht an Chaos, sondern an der Starrheit ihrer eigenen Strukturen. Wenn Systeme perfektioniert werden, verlieren sie ihre Anpassungsfähigkeit – ein Paradoxon, das sich durch die gesamte Menschheitsgeschichte zieht. Institutionen, die einst als Treiber von Stabilität galten, werden zu ihren eigenen Hindernissen. Wir stehen heute an einer Schwelle, an der diese Strukturen sichtbar bröckeln: Wirtschaftssysteme, politische Machtzentren, Bildungseinrichtungen – alle folgen derselben Logik der Wiederholung. Ihre größte Schwäche ist nicht die Instabilität, sondern die Redundanz. Der Kollaps ist nicht das Ergebnis äußerer Einflüsse, sondern ein systemimmanenter Prozess. In diesem Spannungsfeld entfaltet sich der Ansatz der Sapiopoiesis: eine Theorie der bewussten Selbsterschaffung von Systemen, die nicht in der Kontrolle, sondern in der Förderung von Subjektautonomie ihren Zweck erkennt. Diese Konzeption geht weit über traditionelle Steuerungslogiken hinaus und integriert Erkenntnisse aus Kybernetik, Systemtheorie, radikal konstruktivistischer Epistemologie und der Sinnökonomie.

Redundanz als Systemfehler

Die Dynamik der Wiederholung

Redundanz ist der unsichtbare Mechanismus hinter der Trägheit komplexer Systeme. Was als Sicherung gedacht war – Wiederholung von Prozessen zur Stabilisierung – wird zur Wurzel ihrer eigenen Erstarrung. Systeme neigen dazu, eigene Routinen zu perfektionieren, bis diese jede Form von Adaptivität blockieren. Beispiele reichen von bürokratischen Strukturen bis zu wirtschaftlichen Zyklen, die Krisen nicht verhindern, sondern geradezu provozieren. Komplexität wird nicht produktiv, sondern zur Last.

Komplexität versus Anpassungsfähigkeit

Ein System kann nur dann resilient sein, wenn es zwischen Stabilität und Wandel balancieren kann. Überoptimierte Systeme verlieren diese Fähigkeit. Die Finanzkrise 2008 ist ein Paradebeispiel: Hochgradig vernetzte Märkte kollabierten nicht trotz, sondern wegen ihrer Komplexität. Die entscheidende Frage lautet also nicht: Wie robust ist ein System? Sondern: Wie offen ist es für strategische Potenziale jenseits seiner eigenen Redundanz?

Der blinde Fleck institutioneller Logiken

Institutionen neigen dazu, eigene Fehlentwicklungen zu kaschieren. Ihre Stabilität hängt vom Erhalt des Status quo ab – selbst wenn dieser längst obsolet ist. Bürokratien perfektionieren Regeln, bis diese vom eigentlichen Zweck abgekoppelt sind. Der „blinde Fleck“ ist strukturell eingebaut: Institutionen sehen nicht den Systembruch kommen, weil sie ihn nicht sehen können. Die Sapiopoiesis fordert hier eine radikale Neubewertung: Nicht Stabilität um der Stabilität willen, sondern Dynamik als Grundlage zukunftsfähiger Systeme.

Künstliche Intelligenz als Katalysator, nicht als Lösung

Spiegel der Systeme: Was KI sichtbar macht

Künstliche Intelligenz wird häufig als Problemlöser stilisiert. Doch ihr größtes Potenzial liegt nicht in der Optimierung, sondern in der Entlarvung. KI spiegelt die Verzerrungen der Systeme, in denen sie eingebettet ist. Algorithmische Biases sind keine Fehler – sie sind Symptome. KI zeigt uns, wo bestehende Strukturen längst ins Leere laufen. Sie fungiert als Verstärker systemischer Dynamiken und entlarvt Machtasymmetrien sowie Redundanzmuster.

Die Entlarvung von Machtstrukturen

KI macht Macht sichtbar. Indem sie Daten aggregiert und Muster erkennt, legt sie die impliziten Hierarchien offen, die unsere Systeme steuern. Das betrifft nicht nur Wirtschaft und Politik, sondern auch alltägliche Entscheidungsprozesse – von Kreditvergaben bis zu gerichtlichen Urteilen. Hier wird deutlich: KI ist kein neutrales Werkzeug. Sie ist ein Spiegel. Die Frage ist nicht, ob sie fair entscheidet, sondern wessen Logik sie reproduziert.

KI als Beschleuniger systemischer Redundanz

KI kann Systeme effizienter machen – und sie damit schneller an ihre Belastungsgrenzen führen. Überoptimierung wird zum Beschleuniger des Kollapses. Die Automatisierung von Prozessen, die längst dysfunktional sind, ist kein Fortschritt, sondern eine Verfestigung von Fehlentwicklungen. Die Sapiopoiesis stellt dieser Tendenz ein anderes Potenzial entgegen: KI als Mittel zur Redundanzentzerrung und zur Stärkung der Subjektautonomie.

Sapiopoiesis: Die Autonomie der Schöpfung

Selbstorganisation und Emergenz

Sapiopoiesis beschreibt die Fähigkeit eines Systems, sich nicht nur selbst zu erhalten, sondern bewusst zu transformieren. Im Unterschied zu klassischen Steuerungsmodellen geht es nicht um Kontrolle, sondern um emergente Autonomie. Systeme werden nicht mehr von außen dirigiert, sondern entwickeln interne Mechanismen der Selbstkorrektur und Sinnproduktion.

Jenseits von Steuerung und Kontrolle

Der Versuch, komplexe Systeme zentral zu steuern, führt zwangsläufig zu Brüchen. Sapiopoiesis bietet hier einen Ausweg: Durch dynamische Netzwerke und adaptive Strukturen entsteht eine neue Form der Koordination – nicht linear, sondern emergent.

Kollektive Intelligenz und die neue Systemethik

Ethik in sapiopoietischen Systemen ist kein festgelegter Normenkatalog, sondern ein fluides Feld, das sich an den Dynamiken des Systems orientiert. Verantwortung wird nicht delegiert, sondern kollektiv getragen. Die Ethik der Subjektautonomie ersetzt normative Steuerung durch inspirative Sinnstiftung. Hier zeigt sich ein radikaler Bruch mit traditionellen Ethikmodellen: Es geht nicht um die Bewertung von Handlungen anhand vorgegebener Normen, sondern um die Förderung von Bedingungen, die emergente Autonomie ermöglichen.

Die Schwelle des Wandels

Zwischenräume als Möglichkeitsräume

Brüche sind keine Endpunkte. Sie sind Schwellenräume, in denen neue Ordnungen entstehen können. Der Moment des Kollapses ist gleichzeitig der Moment größter Gestaltungskraft.

Der Bruch als kreativer Akt

Wo alte Strukturen scheitern, entstehen Räume für radikale Innovation. Kreativität zeigt sich nicht im Erhalt bestehender Systeme, sondern im Schaffen neuer Zusammenhänge.

Die Rolle der Autonomie in post-redundanten Systemen

Autonomie wird zur Systemlogik: Nicht mehr Hierarchien steuern die Koordination, sondern dynamische Netzwerke. In post-redundanten Systemen zählt nicht Macht, sondern Resonanz. Die Subjektautonomie bildet hier den Kern einer neuen Systemethik.

Epilog: Das Ende der Steuerung – Der Aufbruch der Autonomie

Was bleibt, wenn Systeme kollabieren? Vielleicht keine neue Ordnung im klassischen Sinne, sondern die Erkenntnis, dass Steuerung selbst eine Illusion war.

Sapiopoiesis ist keine Utopie. Sie ist die logische Konsequenz eines systemischen Bruchs – der Moment, in dem Kontrolle sich in Orientierung verwandelt. In einer Welt, die zunehmend von algorithmischen Steuerungen und datengetriebenen Entscheidungsprozessen geprägt ist, wird die Subjektautonomie nicht länger als Ideal imaginiert, sondern als strukturelle Notwendigkeit erkannt.

Der wahre Fortschritt liegt nicht im Perfektionieren der Steuerung, sondern im Ermöglichen von Emergenz. Es ist der Aufbruch in eine neue Epoche des Denkens, in der nicht Systeme die Menschen formen, sondern Subjekte Systeme erschaffen – fluide, anpassungsfähig und resonant.

Wir stehen am Rand einer Zivilisation, die sich nicht länger an der Optimierung des Bestehenden orientiert, sondern an der Entfaltung des Möglichen. Die Subjektautonomie wird zum Katalysator einer neuen Sinnökonomie, in der Wert nicht länger an Akkumulation gebunden ist, sondern an das Maß der Co-Kreation. Der Rest ist Schöpfung. Dies ist kein Aufruf zur Revolution. Es ist eine Einladung zum Umlernen – hin zu einer Zivilisation, die nicht Kontrolle perfektioniert, sondern Subjektautonomie entfaltet.

Quellen

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