Es ist schwer zu sagen, ob es heute noch eine italienische Linke in dem Land gibt, das die 1921 von Antonio Gramsci gegründete Kommunistische Partei Italiens (KPI) in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts zur größten der westlichen Welt werden ließ und einen Referenzpunkt für die Erneuerung des Sozialismus darstellte. Sie erlebte den Aufstieg und die Festigung von Mussolinis Faschismus, den sie mit Waffen bekämpfte, und widerstand der Besetzung durch die Nazis während des Zweiten Weltkriegs.

Mit der Befreiung im Jahr 1945 und den ersten Wahlen 1946 wurde die KPI vollständig in das demokratische Leben einbezogen und erreichte 18,6% der Stimmen, während die italienische Christdemokratie (DC) 35,2% erreichte. Bei den Wahlen von 1948 stieg der Anteil der KPI auf 30%, und der der DC auf 48,5% der Stimmen. Anschließend kann die Geschichte anhand der klassischen Figuren von Don Camillo, dem Priester der Stadt, und Peppone, dem kommunistischen Bürgermeister, nachvollzogen werden. Dies spiegelt die Toleranz, den Respekt und die Komplizenschaft wider, die zwischen den beiden wichtigsten Nachkriegsparteien bestand. In der Zwischenzeit hatte die Regierung der Vereinigten Staaten durch den Marshall-Plan die Dollars fließen lassen, um die wirtschaftliche Entwicklung des Nordens zu fördern und anzukurbeln und den Süden mit Subventionen zu beruhigen. Die wachsende Stärke der PCI, der Gewerkschaften und der Grenze zur kommunistischen Welt trug zu diesem Strom von Hilfsgütern und Darlehen bei. Triest, an der Grenze zum ehemaligen Jugoslawien, war bei Ende des Zweiten Weltkriegs der Ort, an dem die letzten Rechnungen zwischen den Partisanen von Tito und den besiegten Faschisten beglichen wurden, was einherging mit schmerzhaften territorialen Verlusten für Italien: das gesamte Istrien, die Städte Pola, Rijeka, Zadar und einige Inseln. Dies war Teil der Neuordnung der europäischen Grenzen und der Preis für den Verlust eines Krieges.

Das in Italien etablierte parlamentarische politische System hat nicht gerade zur Stabilität des Landes beigetragen: von 1946 bis 2019, d.h. in 73 Jahren, gab es 66 Regierungen1 – in demselben Zeitraum hatte Deutschland nur neun. Das Zweikammerparlament besteht aus 630 Abgeordneten und 315 Senatoren, plus 5 lebenslangen. Dieses System war jedoch kein Hindernis für Italien, sich zu heute einer der sieben größten Volkswirtschaften der Welt zu entwickeln. Nach Angaben der Weltbank belief sich das Pro-Kopf-Einkommen 2018 auf 42.080 USD . Im selben Jahr beliefen sich die Exporte von Gütern und Dienstleistungen auf 746.185 Millionen USD, während die öffentlichen Ausgaben für Bildung und Gesundheit für 2015 und 2016 laut Zahlen des IWF je 8,11% bzw. 13,47% des BIP erreichten.

Das italienische Parteiensystem brach 1992 zusammen, als neben der Korruption in der sogenannten „Saubere Hände“-Operation, die mit mehr als 1.200 Verurteilungen endete und etwa 30 Selbstmorde von Geschäftsleuten und Politikern zur Folge hatte, illegale Finanzierungen aufgedeckt wurden. Die DC, die sozialistische Partei (PSI) und einige andere verschwanden. Gleichzeitig eröffnete der Fall der Berliner Mauer im Jahr 1989 eine zwei Jahre dauernde leidenschaftliche Diskussion über die Existenzberechtigung der KPI, welche, wie mir ein alter ex-Militant erzählte, sogar ganze Ehen kosteten und 1991 mit der Entscheidung endete, ihre Existenz zu beenden. Mit den Worten des letzten Generalsekretärs der KPI, Achille Occhetto:

„70% der Kommunisten sprachen sich nach 10 Sitzungen des Zentralkomitees und zwei Kongressen aus, es wurde in allen Familien, sämtlichen Abteilungen, Fabriken und Schulen auf breitester Basis demokratisch gewählt, und diese Entscheidung wurde getroffen“ 2.

Die Demokratische Linkspartei (ital. Abkürzung PDS) trat an ihre Stelle und die Partei Kommunistische Neugründung (RC) wurde mit denjenigen ins Leben gerufen, die die Auflösung der historischen Partei nicht akzeptierten. Das Vakuum, das das Verschwinden der wichtigsten politischen Referenten in der Gesellschaft hinterließ, verursachte eine Art soziale Ausgrenzung von breiten Bevölkerungsgruppen, die sich kulturell mit der DC und der PCI identifizierten. Der Verlust von soziokulturellen Bezugspersonen führte zu einer gewissen Nostalgie, die noch immer bei älteren und jungen Menschen zu beobachten ist, die diese Zeit idealisiert haben. Heute gibt es keine traditionelle Linke in einer strukturierten Form mit einer definierten Führung, da diese sich allmählich mit der Schaffung der PDS auflöste, welche später, im Jahr 2007, zur gegenwärtigen Demokratischen Partei (PD, die italienischen Sozialdemokraten) wurde und kommunistische Sektoren, fortschrittliche Christdemokraten, Sozialisten und einige der alten extremen Linken einband. All diese Veränderungen fanden inmitten des Globalisierungsprozesses, der Liberalisierung der Finanzströme, der Vertiefung der europäischen Integration und der Herausbildung des sogenannten Dritten Weges statt, der einen Teil des neoliberalen Diskurses legitimierte, welcher in die Programme von Parteien und Regierungen eingeführt wurde.

Die linken Führer von heute, alte und junge, haben kein strukturiertes politisches Projekt, sind in winzigen Parteien atomisiert, die bei den letzten nationalen Wahlen von 2018 ein schlechtes Ergebnis erzielt haben: 5,2% der Gesamtstimmen, verteilt auf die Freie und Gleiche (abgespalten von PD) mit 3,4%; Macht dem Volk (einschließlich der Kommunistischen Neugründung) mit 1,1%; Kommunistische Partei mit 0,3% und Für eine Revolutionäre Linke mit 0,1%. Dies ist die Wählerbasis der sogenannten „wahren“ Linken, während die PD (Sozialdemokratie) 18,7% erreichte; die Populisten der 5-Sterne-Bewegung (M5E) 32,7%, die Vereinigten Rechten 19,6% und die äußerste Rechte der Nördlichen Liga (LN) 17,4%.

In den letzten 14 Monaten regierte in Italien eine extrem seltsame Koalition, die sich aus zwei populistischen Kräften zusammensetzte: die extreme Rechte der Liga (Matteo Salvini) und die 5-Sterne-Bewegung3 (Luigi di Maio), wobei auf die Integration zweier rechter Parteien verzichtet wurde: Kraft Italien (Silvio Berlusconi) und Brüder von Italien (Giorgia Meloni). Die Krise wurde durch den widersprüchlichen Charakter der Koalition und den Fehler Salvinis verursacht, sie beenden zu wollen, indem das Staatsoberhaupt zu Neuwahlen aufriefe. Dies geschah aber nicht und hat einer anderen unnatürlichen Allianz Platz gemacht, die höchstwahrscheinlich regieren wird: M5E und PD, die als Erzfeinde gelten, aber eine Einigung erzielen könnten, die zunächst ein Verhandlungspaket mit der Beibehaltung des Premierministers Guiseppe Conte vorsieht. Am Ende der Verfassung dieses Artikels wurde die Zusammensetzung des neuen Kabinetts erörtert, um es dem Präsidenten vorzustellen. Die Stimmen beider Parteien im Parlament machen eine Mehrheit aus, und mit Erlaubnis des Staatsoberhauptes würden sie eine neue Regierung bilden. Was niemand weiß, ist, wie lange diese Koalition dauern wird.

Die M5E ist mit Stimmen aus einem großen Teil der traditionellen linken Mitte gewachsen, d. h. aus der PD. Ihr Motto war Ehrlichkeit! Ehrlichkeit! – das Denunzieren der betrügerischen Praktiken, Korruption und Kompromissen traditioneller Parteien, während die Liga unter anderem wegen der Angst vor Einwanderung, Kriminalität und der Europäischen Union gewachsen ist. Die 5 Sterne fielen bei den Europawahlen im vergangenen Mai deutlich ab, auf 17,07%, während die Salvini-Liga sich als erste italienische Partei mit 34,27% der Stimmen konsolidierte, gefolgt von der Demokratischen Partei mit 22,73%. Das heißt, in einem Jahr wurde die gesamte Volatilität der Wähler demonstriert.

Die 70er Jahre des 20. Jahrhunderts waren das Jahrzehnt des Ruhms für die PKI und die italienische Linke. Die Höchststimme wurde 1976 erreicht, als 34,4% der Stimmen hinzukamen, d.h. mehr als 12,5 Millionen Wähler, und die Stimmenzahl in Höhe von 38,7% entsprach 14,2 Millionen Wählern. Zur gleichen Zeit tötete die extreme Linke mit bewaffneten Gruppen Polizisten, entführte und richtete 1978 den christdemokratischen Premierminister Aldo Moro hin. Dies geschah, als die sogenannte „historische Verpflichtung" (s. Foto) bzw. das Regierungsabkommen zwischen der PKI und der Regierung teilweise umgesetzt worden war, was der letzten erlaubte, bis 1980 ungestört zu regieren. Bis heute gibt es verschiedene Theorien darüber, wer hinter dem Moro-Verbrechen steckt, mit dem das Abkommen 1980 beendet wurde. Sowohl die Vereinigten Staaten als auch die damalige Sowjetunion begrüßten diese Verpflichtung nicht, dessen geistiger Urheber der Generalsekretär der Kommunisten Enrico Berlinguer war. Beunruhigt über den dramatischen Staatsstreich in Chile im Jahr 1973 machte er sich daran, drei Dokumente mit den Lehren aus dieser Erfahrung im Rinascita – dem Ideologiemagazin der PKI - zu veröffentlichen, in denen er nachwies, dass die linken Kräfte mit einer starken ideologischen Belastung wie im Fall der PKI nicht ohne Bündnisse mit dem politischen Zentrum, das heißt mit der DC, regieren könnten. In jenen Jahren bestand in Italien die Möglichkeit einer Unterbrechung der Demokratie durch faschistischen Gruppen, die mit dem Militär zusammengearbeitet hatten.

Um Vargas Llosas klassischen Satz zu verwenden: wer und was hat die italienische Linke "vermasselt"? War die Auflösung der KPI notwendig oder nicht? Die 70% der Militanten, die sich für die Auflösung aussprachen, scheint keinen Zweifel zu lassen. Ihr Verschwinden war unvermeidlich, obwohl ihre Stärke darin lag, den Prozess der Transformation und Demokratisierung der leninistischen Vision der Partei als einzigartige Avantgarde in Gang zu setzen. Der Eurokommunismus, dem Berlinguer 1976 als Pionier beigetreten war und zu dem sich die französischen und spanischen Kommunisten gesellten, setzte eine tiefgreifende Revision des marxistischen Denkens in Gang und bewirkte die Rechtfertigung der Sozialdemokratie. Zu Anfang war die Ablehnung des sowjetischen Modells, des Stalinismus und der Beginn der Suche nach einem Weg, bei dem der Respekt vor den Menschen und die Akzeptanz des parteipolitischen Systems, d.h. eines offenen Gesellschaftsmodells, im Mittelpunkt standen. Man könnte sagen, dass er den Aufschrei der jungen Tschechen von 1968 aufgegriffen hat, die einen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz" forderten, wie es KP-Generalsekretär Alexander Dubcek ausdrückte, bevor ca. 200.000 Soldaten und 2.000 Panzer des Warschauer Pakts dem sogenannten Prager Frühling und dem Traum von Millionen Linken auf der Welt ein Ende setzten.

Italiens fortschrittliche Parteien müssen sich wie überall auf der Welt den Gefühlen der Bürger anpassen, welche an erster Stelle Transparenz im Umgang mit öffentlichen Mitteln fordern. Im Fall Italiens und Europas geht es nicht um den Klassenkampf, sondern um die Aufrechterhaltung der sozialen Eroberungen, die die Wohlfahrtsgesellschaft in Form von hochwertiger Bildung und Gesundheit zusammen mit Renten, Wohnraum und angemessenen Löhnen geschaffen hat. Die Millionen von Stimmen, die die Linke in der Vergangenheit hatte, waren die von Frauen und Männer, die sich heute enttäuscht und in einer immer komplexer werdenden Gesellschaft unsicher fühlen und den Mangel an politischen Führern erkennen, die sie repräsentieren, begeistern und zum Träumen bringen können. Dies ist der Leerraum, der nicht aufgehört hat zu wachsen und den sich vor allem den Rechtspopulismus zu Eigen gemacht hat.

Es gibt viele Herausforderungen zu bewältigen, um einen Vorschlag für die Zukunft zu unterbreiten, der das Volksempfinden widerspiegelt und der unter anderem die nicht aufhörende Einwanderungswelle, eine gemeinsame Währung, die nicht allen Ländern den gleichen Nutzen gebracht hat, die Integration Europas, das durch seine enorme kulturelle Vielfalt und die häufig ignorierten wirtschaftlichen Asymmetrien immer komplizierter zu werden scheint, berücksichtigen sollte. Ähnliches gilt für die Beziehungen zu Russland und den Vereinigten Staaten in Zeiten von Trump, Putin und Johnson; die Rolle der NATO, die Warteliste der EU-Anwärter, die Überalterung der Bevölkerung sowie globale Themen wie die Schwächung des Multilateralismus, der Klimawandel, die Robotisierung, die künstliche Intelligenz und viele andere.

Progressive Menschen müssen mit den Geistern der Vergangenheit kämpfen und vor allem den Frieden auf einem Kontinent sichern, der zwei Weltkriege verursacht hat. Die endemischen Spaltungen der Linken, Personalisierung und „Caudillismo“, Fraktionierung und Egos sind Faktoren, die es in Italien ermöglichten, dass Silvio Berlusconi und die Rechte dreimal an der Macht waren und dass Salvini heute trotz seiner gegenwärtigen Niederlage hohe Chancen hat, in einer vielleicht nicht einmal allzu weit entfernten Zukunft Regierungschef zu werden.

Es ist wahrscheinlich, dass die Sozialdemokratie weltweit ebenso vom Aussterben bedroht ist wie die derzeitige internationale Ordnung, weil sie unter anderem nicht auf die dringenden Fragen der Bevölkerung in Sachen Ungleichheit, Konzentration von Wohlstand und Klimawandel reagiert. Die italienische PD war, wie das sogenannte linke Zentrum weltweit, Opfer des Globalisierungsdiskurses und des Satzes, den die Wahlkampfstrategen des früheren Präsidenten Bill Clinton formuliert hatten: Es ist die Wirtschaft, Dummkopf. Es fehlte an kritischem Denken und an langfristigen Visionen, um vorauszusehen, dass die Freisetzung der Finanzkreise einen nie dagewesenen Prozess der Konzentration des Reichtums, des Ausschlusses von Mehrheiten und der Zerstörung des Planeten in Gang setzen würde. Es war für sozialdemokratische Parteien einfacher, dem Diskurs der Moderne, dem sogenannten Dritten Weg und der wirtschaftlichen Globalisierung Rechnung zu tragen, ohne die sozialen und kulturellen Konsequenzen zu messen, die ein Abgleiten in das uns regierende System verursacht haben, das zum gegenwärtigen Neoliberalismus geführt hat und der eine internationale Krise mit unvorhersehbaren Konsequenzen verursachte.

Es ist die Wirtschaft, Dummkopf, wurde mit der enthusiastischen Unterstützung internationaler Finanzgremien in ein Dogma verwandelt wurde, was die Linke angesichts eines Ozeans von Zahlen entwaffnete und die Dringlichkeit erweckte, makroökonomische Gleichgewichte zu schaffen, die vor einem Paradigma errichtet wurden, das von nun ab für die gesamte Menschheit gelten sollte: dem der Erhebung des Wirtschaftswachstums in den Status der Göttlichkeit. Niemand, oder nur wenige, haben die sozialen, kulturellen und weniger noch ökologischen Konsequenzen ins rechte Licht gerückt. Die Welle von Privatisierungen, Auslagerungen und Kürzungen von Sozialleistungen leitet sich zum Teil aus diesem Satz ab.

Obwohl die Menschen unter Berücksichtigung ihres Portemonnaies wählen, ist es an der Zeit, darauf hinzuweisen, dass es heute nicht nur um die Wirtschaft geht: Es ist die Ungleichheit, Dummkopf, es sind der Klimawandel, die Brände im Amazonas, übermäßige Gewinne, die Konzentration des Reichtums in immer weniger Händen, der Mangel an menschenwürdigen Arbeitsplätzen und eine lange Liste von Forderungen, die uns in dieser wachsenden globalen Unordnung halten und die junge Menschen zum Wählen motivieren werden. Der Progressismus kann den Populismus nur bremsen, wenn es ihm gelingt, einen kohärenten Diskurs ohne Mehrdeutigkeiten oder kurzfristige Berechnungen zu entwerfen, um eine radikale Änderung der Politik zu fordern, indem die Menschen und der Planet in den Mittelpunkt der Prioritäten gestellt werden und nicht die Profite.

Übersetzung von Anke Kessler

Fußnoten

1 Zum Zeitpunkt der Abfassung dieser Zeilen ist die Regierung unter dem Vorsitz von Giuseppe Conte zurückgetreten.

2 Interview mit dem letzten Generalsekretär der PCI, Achille Occhetto. Padellaro A. und Truzzi S. (2019) “C’era una volta la sinistra". Rom: PaperFIRST, S. 25 und 26.

3 Die populistische M5E wurde 2009 vom Schauspieler und Humoristen Beppe Grillo gegründet. Sie besteht aus einem breiten Spektrum, das von ganz links bis nach ganz rechts reicht. Geboren aus dem Protest gegenüber traditionellen Parteien, integriert sie direkte Demokratie durch Online-Konsultationen für ihre Militanten in Gestalt einer digitale Plattform, die als Rousseau bekannt ist. Auf diese Weise wird hier das Abkommen mit der PD genehmigt oder abgelehnt werden.