Vorbereiten kann man sich nur vorher.
(Finnisches Sprichwort)
Alles ist relativ. Verglichen mit der schwindelerregenden Achterbahn der Trump Regierung ist der CDU/CSU/SPD Koalitionsvertrag1 ein Ausbund an Vernünftigkeit. Gewiss nicht der große Wurf, aber auch nicht blödsinnig. Zwar werden die enormen Risiken, welche die kommenden Jahre prägen werden – Klimakatastrophe, Artenschutzkrise, aggressives Russland, marode Infrastruktur, zerbröselnde Sicherheitsarchitektur – heruntergespielt, aber trotzdem ist der neuen Regierung Schaffenskraft und Erfolg zu wünschen. Ob es reicht, um die Aushöhlung der Mitte und die Stärkung der rechten sowie linken Ränder zu beenden, wird sich herausstellen. Aber die sich beschleunigende Erderhitzung ignoriert und keine klugen Abwehrmaßnahmen geplant zu haben, ist ein Versäumnis, das sich rächen wird. Von allen Kontinenten der Welt erwärmt sich Europa am schnellsten. Die Klimarisiken gefährden die Energie- und Ernährungssicherheit, die Ökosysteme, die Infrastruktur, die Wasserressourcen, die Finanzstabilität und die Gesundheit der Menschen. 2024 stellte Feuchtigkeits- und Überflutungsrekorde auf und war das wärmste Jahr seit es Aufzeichnungen gibt.2
Fossile Energiequellen verursachen die Klimakrise, die es ohne das Verbrennen von Öl, Gas und Kohle überhaupt nicht gäbe. Menschengemacht ist die Klimakrise keine zukünftige Gefahr, sondern zerstört schon jetzt weltweit jedes Jahr Werte in dreistelliger Milliardenhöhe. Seit 1980 summieren sich die Verluste von Extremwetter3 auf über sechs Billionen (also sechstausend Milliarden) Euro, was, um eine Idee dieser gigantischen Summe zu vermitteln, dem Bundeshaushalt von weit mehr als einem Jahrzehnt entspricht.
Diese Schäden, die kein Naturschicksal sind, sondern Folge unserer durchfossilierten Lebensweise, nehmen seit Jahren zu. Und werden es unvermindert weiter tun, so als wären sie unbeeinflussbares Naturschicksal. Wegen diesem unabsichtlichen Fatalismus – oder dieser absichtlichen Ignoranz – hat Klimaschutz seit Jahrzehnten keine Priorität und spielt auch im Koalitionsvertrag eine Nebenrolle. Anderes ist halt immer dringender – Arbeitsplätze, Einwanderung, Haushaltsdefizit, Trump – aber die Schuldenlast der Unterlassungen wächst, die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen sowie politischen Turbulenzen nehmen zu.
Dass die Klimakrise nicht in das Zentrum politischen Handelns gerückt wird widerspricht sowohl dem christlichen Weltbild4der Unionsparteien als auch dem Anspruch der SPD, eine Partei des Fortschritts zu sein und über den Tag hinaus zu denken, wie Willy Brandt vor einem halben Jahrhundert ein Buch betitelte. Der Erderwärmung entgegenzuwirken und die Wirtschaft zu modernisieren wäre kein Widerspruch, sondern würde sich, falls klug angegangen, gegenseitig verstärken.
Seit über vierzig Jahren ist ausbuchstabiert, was zur Verlangsamung der Klimakrise geschehen muss, nämlich drei Innovationen, welche die Energiewirtschaft revolutionieren würden, vorausgesetzt sie kämen symmetrisch und synchron zum Einsatz: Es müssten erneuerbare Energiequellen ausgebaut, die Energieeffizienz erhöht und der Energieverbrauch reduziert werden.5 Bei den ersten beiden Variablen geht es in Deutschland langsam aber stetig voran, beim Energieverbrauch jedoch in die falsche Richtung.
Erneuerbare Energiequellen sind inzwischen kostengünstigster als Gas, Öl, Kohle und Atom. Letztes Jahr deckten sie fast 60 Prozent des Strombedarfs.6 Deutschlands Treibhausgasemissionen7 sanken zwischen 1990 und 2024 um fast die Hälfte, nämlich von 1248 auf 649 Millionen Tonnen CO₂ Äquivalente. Aber der gesamte Energieverbrauch in Deutschland8 ist seit Beginn der 1990er Jahre praktisch konstant geblieben. Weil noch immer fast 80 Prozent dieses Verbrauchs aus fossilen Quellen stammt, ist eine Reduzierung auf Netto Null nicht erreichbar. Effizienssteigerung und der Ausbau der erneuerbaren Energiequellen verpuffen.
Energie ist kostbar und in der Herstellung umweltbelastend. Außerdem ist Energie, wie Russlands Angriff auf die Ukraine einmal mehr verdeutlicht hat, ein wichtiger Faktor der nationalen Sicherheit. Staaten, die von der Einführung fossiler Brennstoffe unabhängig sind, vergrößern ihren politischen und finanziellen Handlungsspielraum. Abhängigkeit von Putins Erdgas oder Trumps Flüssiggas verringert ihn. Deutschland importiert9100 Prozent der verbrauchten Steinkohle, 98 Prozent des Mineralöls und 95 Prozent des Erdgases. 2023, also noch nach Russlands Angriff auf die Ukraine und einem starken Importrückgang, kosteten die deutschen Einfuhren10 fossiler Brennstoffe noch immer 80 Milliarden Euro, die der ganzen EU 316 Milliarden Euro.
Die Überwindung dieser Abhängigkeit sollte höchste ökonomische und ökologische Priorität haben, denn Ressourcen nicht zu benötigen kostet weniger als sie kaufen zu müssen. Die Sonne schickt keine Rechnung. Die Umrüstung auf erneuerbare Energien erfordert zwar vorgelagerte Investitionen, aber schafft hochwertige, zukunftssichere Arbeitsplätze. Die Vermeidung von Umweltschäden spart viel Geld. Je ambitionierter die Reduktionsziele sind, desto größer wird der Auftrieb für Erneuerbare, Effizienz und Einsparungen, und desto unstrapaziöser wird der Teufelskreis in einen Tugendkreis verkehrt.
Leider ist der Koalitionsvertrag diesbezüglich bescheiden und geht mit klimaschädlichen Anreizen sogar in die falsche Richtung: Neubauförderung ohne angemessene Effizienzstandards, kein Tempolimit, Erhöhung der Pendlerpauschale, weniger Gebühren beim Fliegen, die Wiedereinführung der Steuerbegünstigungen für Agrardiesel, die Ausweitung der steuerlichen Förderung auf bis zu 100.000 Euro teure Luxus-Elektrofahrzeuge, der Neubau von Gaskraftwerken mit einer Gesamtleistung von 20 GW, die Senkung der Strompreise für Privatkunden und die Industrie. Alle diese Maßnahmen werden den Energieverbrauch erhöhen, zumal die marktverfälschenden Subventionen fossiler Brennstoffe nur „geprüft“ werden sollen. Ihr Abbau würde die durch staatliche Eingriffe perverse Begünstigung fossiler Energie abstellen, vor allem:
Subventionen von jährlich ca. €70 Milliarden,11 von denen die private Dienstwagennutzung mit rund €3 Milliarden zu Buche schlägt, die Steuervergünstigungen für Dieselmotoren mit rund €8 Milliarden;
der CO2 Preis von €45 pro Tonne, der weit unter den entstehenden Folgeschäden von €195 und €680 pro Tonne liegt;12
die Veröffentlichung der Energiewende Systemkosten und die Budgetierung von €460 Milliarden für den Ausbau der Stromnetze13 bis 2045.
Das süße Gift niedriger Energie und CO₂-Preise kommt zwar hauptsächlich den Wohlhabenden zugute, ist aber allgemein beliebt. Konsumenten und Produzenten, Landwirte und Fluglinien, Hotelbesitzer und Feriengäste betrachten sie als Gewohnheitsrecht und sind dem Argument unzugänglich, dass sie die Einführung erneuerbarer Energiequellen verhindern, Effizienzsteigerungen verzögern und den sorgsamen Umgang mit einem wertvollen Gut verhindern.
Billige Energie ist ökologisch sowie ökonomisch schädlich, zusätzlich aber noch ein überragendes Gerechtigkeitsproblem. Dem eklatanten Überfluss im industrialisierten Norden steht die abnorme Energiearmut im Globalen Süden gegenüber. Der jährliche pro Kopf Energieverbrauch Deutschlands14 ist ca. 35.000 kWh, der von Bangladesch 3.000 kWh und jener von Ruanda 500 kWh. Anders gesagt ist Deutschlands pro Kopf Energieverbrauch mehr als das zehnfache dessen von Bangladesch und das siebzigfache Ruandas. Dieser Vorsprung ist mit Windrädern nicht aufzuholen, weder hier noch dort. Fair wäre ein geringerer Verbrauch im Norden, welcher mit der Triade Effizienz, erneuerbare Energien und Einsparung erreicht werden kann, vorausgesetzt sie ist ausgewogen.
Ein anderer Gerechtigkeitsaspekt ist, dass heutige Konsumenten nur für einen Bruchteil des Schadens aufkommen, den sie anrichten, weil die wahren Kosten nicht von ihnen bezahlt werden, sondern von anderen, die weder einen Nutzen noch ein Mitspracherecht haben. Dies sind insbesondere ärmere Leute, Menschen im globalen Süden, nachfolgende Generationen – und selbstverständlich die Natur. Wegen dieser Auslagerung von Kosten – die Volkswirtschaft gebraucht den Fachausdruck Externalisierung – ist die Klimapolitik in erster Linie eine ethische und politische Aufgabe, und erst nachrangig eine wissenschaftliche, technische oder finanzielle Angelegenheit. Der Koalitionsvertrag fasst das Problem anders und die neue Regierung manövriert sich in eine Falle von Teillösungen, welche nur teilweise funktionieren.
Sie lässt ein zentrales marktwirtschaftliches Prinzip außer Acht, nämlich dass Menschen und Unternehmen in erster Linie auf Anreize – richtige und falsche – reagieren. Wenn zwei Euro Pfand für einen Einkaufswagen verlangt werden, kommen alle wie von Zauberhand zum Ausgangspunkt zurück; wenn nicht, verunstalten sie rostend die Landschaft. Es ist Regierungsaufgabe, Rahmenbedingungen zu schaffen, in welchem normales Handeln unschädlich ist. Energie wird vergeudet wenn der Verkaufspreis weit unter dem tatsächlichen Wert liegt. Zu billige Energie hat eine perverse Steuerungswirkung, sichtbar zum Beispiel an den Lampen, die immer brennen, an den Ladentüren, die trotz Heizung oder Kühlung sperrangelweit offenstehen, an den dreitonnigen SUVs, die einen 70 kg Menschen zum Abholen einer 1½ Pfund Pizza um die Ecke fahren und an den €65 Wochenendflügen nach Antalya oder Athen, Barcelona oder Berlin, Lissabon oder London, Palma oder Paris, Venedig oder Wien.
Meine klugen, weltgewandten und interessierten Studenten, ob in Europa oder in den USA, wissen gemeinhin nicht, was eine Kilowattstunde Strom kostet oder was sie leistet. Es überrascht sie, dass eine Kilowattstunde der Energie entspricht, um ein Kind auf eine Bergspitze zu tragen, oder wie es Ernst Ulrich von Weizsäcker15 präziser ausdrückt: Um einen 10 kg schweren Wassereimer von der Meereshöhe auf den Gipfel des Mount Everest zu heben braucht es eine Viertel Kilowattstunde. Dieser gewaltige Aufwand soll weniger als 50 Euro Cent Wert sein? Das kann doch nicht sein. Energie ist viel zu billig und erst wenn sie – egal ob aus fossilen oder erneuerbaren Quellen gewonnen – angemessen bepreist wird, gibt es eine Chance, die Zerstörung der Welt zu verlangsamen.
Ein kostbares Gut unter Wert zu verkaufen fördert Verschwendung und schafft Fehlanreize für Konsum, Forschung und Industrie. Produkte der Zukunft sind nicht Verbrennungsmotoren oder Gaskraftwerke, sondern saubere Energie, Batterien, Elektrofahrzeuge, Roboter, Drohnen, Quantencomputer und künstliche Intelligenz, also sollte Deutschland in der globalen Energie Revolution eine Vorreiterrolle anzustreben. In der Klimapolitik heißt dies, Energie „richtig“ zu bepreisen, also alle Folgekosten zu integrieren. Mit Preiswahrheit – also dass Preise wirkliche Kosten und Knappheiten reflektieren – hat die Marktwirtschaft, auf die sich die künftige Regierung beruft, ein griffiges Instrumentarium an der Hand sowohl zur Schadensbegrenzung wie zur Zukunftssicherung.
Um noch zwei Einwände auszuräumen: Deutschland ist zu klein, um weltweit einen Unterschied zu machen, und eine Energiepreiserhöhung trifft vor allem die Bezieher unterer Einkommen. Ja, Deutschland stellt nur ein Prozent der Weltbevölkerung dar, verursacht aber über zwei Prozent der globalen Grünhausgas Emissionen und verantwortet seit der Industriellen Revolution ca. vier Prozent dieser globalen Emissionen. Letzteres ist deswegen relevant, weil Kohlendioxid über Jahrhunderte in der Atmosphäre verbleibt und die aktuelle Erwärmung das Resultat heutiger und historischer Emissionen ist. Deutschland ist die viertgrößte Wirtschaftsmacht der Welt, was das Schwarzfahrerargument besonders unseriös macht: die Straßenbahn fährt sowieso, weshalb es auf einen einzigen Fahrschein nicht ankommt.
Auch klar, dass es nach verschlafenen Jahrzehnten die wirtschaftliche Transformation nicht zum Nulltarif gibt. Trotzdem sollten Sozialpolitik und Klimapolitik nicht gegeneinander ausgespielt werden. Höhere Energiepreise sollten nicht der Aufstockung von Steuern dienen, sondern der Steuerung von Wirtschaft und Gesellschaft. Wenn sie einkommensneutral ausgestaltet werden, können sie sowohl niedrigere Einkommen entlasten wie auch den Wettbewerbsvorteil klimaneutraler Energie, Mobilität und Industrie verstärken. Durchdachte, erprobte, finanzier- und skalierbare Strategien gibt es. Die kommende Bundesregierung könnte, wohlgemerkt mit marktwirtschaftlichen Mitteln und mit grünen Technologien, nachhaltiges Wachstum generieren, die Wirtschaft modernisieren, der politischen Lähmung entgegenwirken und die lahmende Exportwirtschaft revitalisieren.
Anmerkungen
1 CDU, CSU und SPD, „Verantwortung für Deutschland – Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD“, 9. April 2025.
2 World Meteorological Organization (WMO); Programme of the European Union; Copernicus Climate Change Service (C3S); European Centre for Medium-Range Weather Forecasts (ECMWF); European State of the Climate, 15. April 2025.
3 Munich Re, “Naturkatastrophen weltweit: Schäden steigen, der Klimawandel schlägt zu“, April 2025.
4 Papst Franziskus veröffentlichte in Vorbereitung der Pariser Umweltkonferenz, COP21, seine Enzyklika Laudato Si– über die Sorge für das gemeinsame Haus. 24. Mai 2015. Der Papst warnte vor der absurden „Idee eines unendlichen und grenzenlosen Wachstums, das die Ökonomen, Finanzexperten und Technologen so sehr begeisterte. Dieses Wachstum setzt aber die Lüge bezüglich der unbegrenzten Verfügbarkeit der Güter des Planeten voraus, die dazu führt, ihn bis zur Grenze und darüber hinaus „auszupressen“. Es handelt sich um die irrige Annahme, „dass man über eine unbegrenzte Menge von Energie und Ressourcen verfügen könne, dass diese sofort erneuerbar und dass die negativen Auswirkungen der Manipulationen der natürlichen Ordnung problemlos zu beheben seien.“ (Paragraph 106).
5 Florentin Krause, Hartmut Bossel, Karl-Friedrich Müller-Reißmann, Energie Wende. Wachstum und Wohlstand ohne Erdöl und Uran (Frankfurt, S. Fischer-Verlag, 1980).
6 Statistisches Bundesamt, Pressemitteilung Nr. 91; 12. März 2025.
7 Umweltbundesamt, „Klimaziele bis 2030 erreichbar,“ Pressemitteilung Nr. 11, 14. März 2025.
8 Umweltbundesamt, „Energieverbrauch nach Energieträgern und Sektoren“, 21. Februar 2025.
9 Umweltbundesamt, „Primärenergiegewinnung und -importe”, 10. Dezember 2024.
10 Deutsche Wirtschaftsnachrichten, “Energieimport Deutschland: 80 Milliarden Euro für fossile Brennstoffe!“, 24. Januar 2025.
11 Umweltbundesamt, „Umweltschädliche Subventionen“, 3. Dezember 2021.
12 Astrid Matthey und Björn Bünger, Methodenkonvention 3.1 zur Ermittlung von Umweltkosten: Kostensätze Stand 12/2020, Umweltbundesamt.
13 Bundesrechnungshof, „Sonderbericht zur Umsetzung der Energiewende im Hinblick auf die Versorgungssicherheit, Bezahlbarkeit und Umweltverträglichkeit der Stromversorgung“, 7. März 2024.
14 Central Intelligence Agency, “Country Comparisons – Energy consumption per Capita” The World Fact Book; undatiert.
15 Ernst Ulrich von Weizsäcker, „Leider ist das Anthropozän nicht nachhaltig. Können wir das ändern?“, Vortrag vom 11. Januar 2021.