Der Titel Soleil politique. Das Museum zwischen Licht und Schatten. bezieht sich auf eine 1972 entstandene Arbeit des belgischen Künstlers Marcel Broodthaers (Brüssel 1924 – Köln 1976). Auf einer Schwarz-Weiß-Abbildung, die er einem enzyklopädischen Lexikon entnommen hatte, manipuliert Broodthaers die grafische Anordnung der Planeten im Sonnensystem. Indem er die Umlaufbahn der Sonne, die über den Planeten kreist, mit dem handgeschriebenen Wort „politique“ ergänzt, weist er nicht nur auf die emanzipatorischen Kraft des „aufklärenden“ Sonnenlichts hin, sondern unterstreicht auch das dominante Wesen einer Macht, die bedingungslose Unterwerfung einfordert.

Eine Intervention auf der am unteren Bildrand platzierten Erdumlaufbahn vervollständigt diese Arbeit. Der Planet Erde verschmilzt mit der Dunkelheit des Universums. Der damalige Direktor des Musée d'Art Moderne, Départment des Aigles („Museum für moderne Kunst, Abteilung der Adler“, ein konzeptuelles Projekt, das der belgische Künstler 1968 begonnen hatte) deutet damit die Möglichkeit einer Wiederkehr rückschrittlicher „Finsternis“ an. Mit einem Strich schwärzt Broodthaers den Planeten Erde und betont damit die Bedrohung, die eine Identität, die sich der eigenen Unvollständigkeit und Unzulänglichkeit nicht mehr bewusst ist, darstellt.

Der Standort von Soleil politique ist das Museion in Bozen und dieser Name führt direkt zu den Ursprüngen des „Museums“ zurück, das 391 v. Chr. im ptolemäischen Ägypten entstanden war. Während der französischen Revolution bezeichnet der vom lateinischen Wort „Museum“ abgeleitete Begriff „Museion“ den Aufbewahrungsort, für die Schätze des kollektiven Gedächtnisses, die früher dem Adel oder dem Klerus vorbehalten und dann an das Volk übergegangen waren. Damals war das „Museion“ – wie schon in Ägypten – noch ein bewohnter Ort. Ob „antik“ oder „revolutionär“ – das Museion diente als Refugium für Künstler und fachübergreifend arbeitende Gelehrte, die in einem dauerhaften Dialog mit ihren Studenten und den kurzzeitig anwesenden Gästen standen.

Heute kehrt man zu diesem vielgestaltigen und lebendigen Modell, das von Philosophen aus der antiken Welt und der Aufklärung gleichermaßen gestützt worden war, zurück, um das Museum des 21. Jahrhunderts zu bauen. Das industrielle Zeitalter und dessen Klassifizierungslehre ließen das Museum für moderne Kunst des 20. Jahrhunderts entstehen. Aber es ist auch dessen Dogmatismus, der ebenso unzeitgemäß ist wie die überholte Engstirnigkeit der Enzyklopädie, auf die sich Marcel Broodthaers mit seiner Arbeit beruft, der dabei ist, das Skelett einer Institution auszuhöhlen, die dem Profitstreben, der Arbeitsteilung und der Einteilung in Zuständigkeitsbereiche unterworfen ist. Versuche, die Institution Museum mit internen Eingriffen (etwa mit dem Einsatz von Vermittlern) oder mit externen Trends (durch die Öffnung zu neuen Besucherschichten und geographischen Einzugsgebieten) zu beleben, können nicht über die wahren Ursachen dieser Reformen hinwegtäuschen. Diese Interventionen reichen nicht aus, um einen geschwächten Organismus vor dem Rückfall in überkommene Traditionen abzuhalten, die vor allem der Einlagerung von Kunst als möglicher Profitquelle dienen.

Soleil politique versteht das Museum als Standort vielfältiger und ungleichmäßig zusammengesetzter Prozesse – und nicht als Einrichtung, die kapitalistischer Eintönigkeit und Gleichmäßigkeit verpflichtet ist. Die digitale Revolution macht das Private global und öffentlich. Die Ausstellung dringt in das große, unübersichtliche und vielseitige Netz jener Systeme ein, denen wir heute unterworfen sind. Dabei stützt sie sich auf Erzählungen und Entwürfe von Künstlern und Autoren und macht sich deren kreative Methoden zunutze, um einer von den internationalen Warenbörsen ausgehenden organisierten Unsicherheit entgegenzuwirken. Die im mehrsprachigen Grenzland Südtirol gezeigten Arbeiten, von denen einige für diese Ausstellung entstanden sind, entwickelt Sichtweisen, die aus eingegrenzten, vorgegebenen und eindeutigen Räumen subversiv ausbrechen. Kurz: Soleil politique ersetzt modische Trends und Medienevents durch Stimmungen, Leidenschaft und Gefühle.

Mit Arbeiten von: Mathieu Abonnenc, Raimund Abraham, Robert Breer, KP Brehmer, Marcel Broodthaers, CAPC musée d'art contemporain de Bordeaux – Philippe Thomas, Achille Castiglioni, Marie Cool Fabio Balducci, Josef Dabernig, Giorgio De Chirico, Felix Gonzalez-Torres, Alberto Garutti, Isa Genzken, Prinz Gholam, Dan Graham, Mauricio Guillén, Sanja Ivekovic, Marcello Maloberti, Mattin, Isidoro Valcárcel Medina, Marta Minujín, Deimantas Narkevicius, Roman Ondák, Christodoulos Panayiotou, Emilie Parendeau, Pier Paolo Pasolini, Gianni Pettena, Walter Pichler, Pratchaya Phinthong, Emilio Prini, Lili Reynaud-Dewar, R&Sie(n) François Roche, Stephanie Lavaux, Jean Navarro, Matthieu Saladin, Carlo Scarpa, Allan Sekula, Santiago Sierra, Elaine Sturtevant, Terre Thaemlitz, Slaven Tolj, Annie Vigier et Franck Apertet, Marie Voignier, Lois Weinberger et al. Zur Ausstellung erscheint ein dreisprachiger Katalog (dt, en, it)

Pierre Bal-Blanc (Ugine, Frankreich, 1965) ist unabhängiger Kurator und Direktor des Contemporary Art Center (CAC) in Brétigny s/Orge bei Paris und – im Ausstellungsjahr 2014 – Gastkurator im Museion. Seine Projekte und Ausstellungen wurden in bedeutenden internationalen Kunstinstitutionen und bei Kunstmessen gezeigt, wie etwa in der Tate Modern in London, im Rahmen der Berlin Biennale (Monnaie Vivante-Living Currency), in der Sezession in Wien (The Death of the Audience) und bei der Artissima in Turin (Draft Score for an Exhibition). Im CAC Brétigny entwickelte Bal-Blanc das Projekt Phalanstère – eine Reihe mit ortsspezifischen Arbeiten, die von den beauftragten Künstlerinnen und Künstlern der Sammlung des CAC überlassen werden. Pierre Bal-Blanc kuratierte auch Reversibility – ein Ausstellungsprojekt, das sich mit der Rolle und der Form zeitgenössischer Kulturinstitutionen auseinandersetzt. Reversibility wurde auf der Frieze Art Fair in London (2008), im CAC Brétigny (2010) und im Kunstraum Peep Hole in Mailand (2012) gezeigt.

Eröffnung: 26/09/2014, 19 Uhr

Museion

Via Dante, 6
Bozen 39100 Italien
Tel. + 39 047 1223413
info@museion.it
www.museion.it

Öffnungszeiten

Dienstag - Sonntag 10.00 - 18.00 Uhr
Donnerstag 10.00 - 22.00 Uhr

Abbildungen
  1. Lili Reynaud-Dewar, karma international 1
  2. Prozession mit Tragbarem Schrein, 1970, (Walter Pichler and Werner Stupka), Foto: Marina Faust
  3. Lili Reynaud-Dewar, I am intact and I don't care (Consortium, exposition Phillip King) 2013
  4. Emilio Prini, Stampa di un consumo - Monaco '71 Il caffè del Kunstverein, 1971, Courtesy Galleria Piomonti Roma
  5. Allan Sekula, Meat Mass, 1972, Foto by Allan Sekula and David Alward, (c) Generali Foundation
  6. Marta Minujín, El obelisco acostado, 1978