Die Charim Galerie zeigt eine signifikante Auswahl von Ulays Werken parallel zur Präsentation der Arbeiten von Marina Abramovic in der Albertina Modern. Unsere Ausstellung setzt sich zum Ziel, nicht nur das künstlerische Werk Ulays sondern auch seine künstlerische Haltung zu vermitteln und nachvollziehbar zu machen. Durch den Zugang zu den Archiven in Ljubljana und Amsterdam ist es gelungen über originale Arbeitsdokumente und Archivalien zu verfügen, die ein wesentlicher Teil der Ausstellung sind. Werk und Leben von Ulay werden zudem in begleitenden Veranstaltungen thematisiert, um eine vertiefende Auseinandersetzung zu ermöglichen. So gesehen ist „ULAY“ in der Charim Galerie Teil eines größeren Vermittlungszusammenhangs, der auch auf die kommende Museumsausstellung, Art Vital – 12 jahre Ulay / Marina Abramović, in der Cukrarna in Ljubljana, kuratiert von Alenka Gregorič und Felicitas Thun-Hohenstein, verweist.

Ulay. Er begegnet uns gleich im Eingangsbereich der Charim Galerie als junger Mann, der sich vor der Kamera selbst inszeniert und dies auch sichtbar macht. Eine weiße Fläche wurde als Hintergrund aufgespannt, links davon sind Teile eines Studios sichtbar und die Attribute der 70erJahre-Jugendkultur – lange Haare, ein flamboyantes Jackett, bestickte Jeans, an die stiefelartige Ledergamaschen genäht wurden – vermitteln den Eindruck einer phantasievollen Stilcollage, die konventionelle Rollenzuschreibungen verunmöglicht. Damit sind in dieser kleinformatigen Polaroid Aufnahme, einem Autoportrait aus dem Jahr 1970, bereits grundlegende Elemente dessen versammelt, was das spätere Leben und Werk von Ulay prägen wird. Die bewusste Zeigeabsicht auf dieser Polaroid manifestiert sich jedoch in zwei Objekten, die Ulay in Händen hält: Eine Sofortbildkamera, sie ist sein Arbeitsinstrument – er ist für den Sofortbild-Hersteller Polaroid tätig – und die lebensgroße Maske eines adrett frisierten Jungen, die so ziemlich das Gegenteil von dem vorstellt, was ihn, 1970 in Amsterdam, umtreibt und beschäftigt.

Ulay, 1943 als Frank Uwe Laysiepen im deutschen Solingen geboren, wird nach einer Kindheit in den Weltkriegstrümmern Industriefotograf mit eigenem Studio, gründet eine Familie. Er verlässt Frau und Sohn, um der Einberufung in die Bundeswehr zu entgehen. Ende der 1960er reist er zunächst nach Prag und lässt sich dann in Amsterdam nieder. Und in diesem neuen Leben wird die Maske der nachkriegsdeutschen Normalität zum Attribut einer Identitätszuschreibung, das er abgelegt hat.

Amsterdam bietet Ulay ein stimulierendes Umfeld, das ihm zum Ausloten von Grenzen und deren Überschreitung im Selbstexperiment ermutigt. Er bewegt sich in verschiedenen Milieus, im Kreis einer anarchistischen Protestbewegung (Provos) die mit satirischen Aktionen auf sich aufmerksam machte, von denen Teile später eine außerparlamentarische Opposition formierten. Er beschäftigt sich mit Obdachlosen, der Hausbesetzerbewegung, dokumentiert die Milieus von transsexuellen Personen und Transvestiten und lernt Jürgen Klauke kennen, den ähnliche Anliegen umtreiben. Zudem gehört er später zum Gründungsumfeld (1975) von De appel, einer Kunstinstitution neuen Formats, das der sich neuformierenden Body-art und Performance Szene einen institutionellen Rahmen bietet. Dies ist auch der Ort an dem eine junge Künstlerin aus dem ehemaligen Jugoslawien, Marina Abramović, den von ihr bewunderten Ulay kennen lernen wird.

Doch zunächst experimentiert Ulay mit der Polaroidkamera, die eine intime und entgrenzende Selbsterforschung zulässt. Sie ist anfänglich nicht als Kunst gedacht ist, sondern als ein Erforschen von sich selbst und anderen. Erst in weiterer Folge wird die Selbstbefragung durch das Performen vor der Kamera zur künstlerischen Praxis der Identitätssuche.

Unserem intuitiven Verständnis von Identitätsfindung entspricht, dass wir uns in einem zeitlichen Kontinuum begreifen und unsere Lebensgeschichte, somit auch ein (künstlerisches) Handeln, als Ausdruck personaler Identität verstehen. Doch Ulay bewegt sich an den Rändern der Gesellschaft und es wird ziemlich evident, dass viele Lebensgeschichten keine kongruenten Erzählungen ermöglichen und genau das fraglich wird, was den Anschein der Normalität und die damit verbundenen Zurechtweisungen, Ausschlüsse und Rollenzuschreibungen, aufrechterhält. Zudem wird der eigene Körper durch Ulays Agieren vor der Kamera in verschiedenen Posen, Verkleidungen und dokumentierten Aktionen, zum Bild und somit zu einem Anderen, wodurch er beginnt, sich als Objekt zu sehen. Er setzt sich dabei genderfluide in Szene und entwickelt eine Synthese von he und she, die er auch in seinen Auftritten in der Öffentlichkeit, halbseitig geschminkt und feminin, halbseitig bartstoppelig und männlich, lebt.

Im so entstehenden künstlerischen Werken kommt dieses Begreifen zum Ausdruck und etabliert ein Reflexionsverhältnis, das dieses gleichzeitig verändert. Das empfundene Selbst und das Andere des eigenen Körpers konstituieren so eine Dynamik, welche für die weitere künstlerische Arbeit produktiv wird. Er erkundet seinen Körper bis hin zu Selbstverletzungen und fragt mit künstlerischen Mitteln danach, welches Selbst darin zu seinem Verständnis gelangt?

Er schuf Identitätscollagen (Renaissance Aphorism, 1972–75) aus Nahaufnahmen verschiedener Körperpartien, deren „anagrammatische“ Zusammensetzung an Werke von Valie export erinnert. Mit Traumatic fears (1973) setzte er sich mit den anhaltenden Auswirkungen traumatischer Erfahrungen auseinander. Sein Selbstporträt im Bett liegend verweist möglicherweise auf Hitlers Lieblingsgemälde Der arme Poet – eine bittere Ironie angesichts der kurzen Dauer des sogenannten Tausendjährigen Reiches und seines traumatischen Erbes, das über Generationen nachwirkte. Das Leben ließ sich nicht länger romantisieren; die Fassaden bürgerlicher Normalität waren zerbrochen.

Die radikalisierte Selbsterfahrung wird so auch zur Botschaft einer aufbrechenden Jugend, die gesellschaftliche Veränderungen anstrebt und sich Utopien verschreibt, deren politische Schubkraft viele unserer heutigen Freiheiten ermöglicht hat. Ulay bewegt sich mitten in diesen Szenen, (Death of a transvestite, 1973). Die Metamorphosis of a canal house, 1972 ist dann eine seiner „visuellen und ökologischen Interventionen“, die in unserer Ausstellung einen direkten Einblick in das damalige Kunstgeschehen ermöglichen soll, vermittelnd unterstützt durch die zahlreich versammelten Archivalien aus dieser Zeit, die in der Ausstellung zu sehen sind.

Eine wesentliche Rolle kommt dem künstlerischen Umfeld von De Appel zu. Die Auftritte und die Anwesenheit vieler Künstlerinnen ermöglichen es, die „Body Art“ und „Performance Kunst“, als sich neuformierendes Kunstfeld zu begreifen. Künstlerinnen lernen die Werke der Kolleginnen kennen, knüpfen Kontakte, aus denen nicht selten lebenslange Feindschaften werden. Ulay ist aktiver Teil, performt mit Jürgen Klauke, trifft Laurie Anderson, James Lee Byars, Gina Pane, Chris Burden, Ulrike Rosenbach, und eben auch Marina Abramović, die dann in seiner Performance *Phototot zur Mitwirkenden wird.

Schließlich jedoch verabschiedet sich Ulay von der Konzeption einer singulären Persönlichkeit und dokumentiert dies auch 1974 in einer Todesanzeige: Mein abschied als einzige person / 1943 – 1974, die gleichsam als Fluchtpunkt im ersten Raum unserer Ausstellung den Horizont für die präsentierten Werke fixiert.

Der immer auch reflexive Umgang mit den Medien, sei es der eigene Körper, sei es die Fotografie, oder seien es die Performances in Anwesenheit des Publikums, gipfelt dann auch in einer Art Selbstauslöschung der Fotografie selbst. In der Fototot – Serie entschwindet das fotografische Bild im Lichte des Betrachtens und wird zur opaken schwarzen Fläche. Art Vital, die legendäre gemeinsame Zeit mit Marina Abramović wird daran anschließen und die Frage nach dem Verhältnis von Kunst und Leben erhält einen klarstellenden Sinn, indem sie nach den Konsequenzen fragt, die ein derartiges Kunstverständnis auf das Leben hat, und nicht umgekehrt. Das bedeutet in und mit der Kunst Grenzen zu überschreiten, Risiken einzugehen, verletzlich zu sein und, Ulay betreffend, eine Ethik zu leben, die in eine Formel gebracht lautet: „Ästhetik ohne Ethik ist Kosmetik“!

Unsere Ausstellung versucht einerseits durch die Werkauswahl im Zusammenhang mit den Archivalien Ulays frühem Werk jenen Rang zuzuweisen, der auch verdeutlichen soll, wie prägend diese Arbeiten und Themen in die gemeinsamen Performances mit Marina Abramović eingeflossen sind. Ihre zur Legende gewordene Zusammenarbeit ist Gegenstand einer Ausstellung, Art Vital – 12 jahre Ulay / Marina Abramović in der Cukrarna in Ljubljana, auf die wir durch unsere Werkschau verweisen.

Der letzte Raum der Ausstellung verweist auf die Zeit nach der Trennung des Paares und ist ein Ausblick auf die kommende Auseinandersetzung mit den Werken dieser Schaffensphase in unserer Galerie. Ulay interessiert sich weiterhin für gesellschaftlich marginalisierte Menschen und die politische wie soziale Anteilnahme bleiben Leitlinien seiner künstlerischen Arbeit. Wie bereits in seinen Anfängen sind es die fluiden Übergänge zwischen Kunst und Leben, Identität und ihre Auflösung sowie subversive Strategien, die auch den geldgetriebenen Kunstbetrieb hinterfragen, die ihn beschäftigen. Er kehrt wieder zur Fotografie zurück, wie die drei übergroßen Polaroids „Black Skull (from the series Can’t beat the feeling – Long playing record), 1992, eindrücklich belegen.

Der visuellen Präsenz der Black skulls haben wir Unhurt (Relation in space), 2015 gegenübergestellt. Sie zeigt Ulays Verletzlichkeit, die das Wagnis, Grenzen zu überschreiten, zur Voraussetzung hat und gleichzeitig herausfordert. Es sind die Grenzen des Mediums der Fotografie, die Ulay weiterhin beschäftigen, wie auch das andauernde Nachdenken über das Verhältnis von Kunst, die ins Leben wirkt.