Nach einer Solopräsentation bei Caprii im vergangenen Jahr zeigt Sies + Höke mit Désarroi erstmals eine Einzelausstellung von Xie Lei in den Räumen der Galerie. Zehn neue Gemälde sowie zweiundwanzig Arbeiten auf Papier öffnen die Tür in eine Welt, in der die Dinge in einer aufwühlenden Unordnung begriffen sind. Der vom Künstler zum Ausstellungstitel gewählte Begriff steht für mehr als nur Unordnung und Durcheinander – Désarroi meint Zusammenbruch, Zerstreuung, Verfall, Niederlage und Desorganisation; er kann seelische Verwirrung oder eine tiefe Bestürzung beschreiben, wobei heute eher innere Ausnahmezustände gemeint sind als materielle wie noch im 19. Jahrhundert. Damit passt er gut zu diesem Œuvre, denn Xie Lei malt keine Alltagsmomente, sondern Ausnahmezustände und Augenblicke der Transformation. Die Figuren, die er mit dem Pinsel und mit den eigenen Fingern aus dem dunklen Grund seiner Leinwände herausmodelliert, haben weder ein eindeutiges Geschlecht noch ein feststellbares Alter. Sie sind, das sagt er selbst, eher Fantomas-Figuren oder anonyme Wesen. Man kann sie nicht richtig greifen, aber sie interagieren auf eine Weise miteinander, die alles andere als beiläufig ist. Was wir auf diesen Leinwänden sehen, ist von einer berückenden Intensität. Menschen – oder sind es Geister? – scheinen in Flammen zu stehen, in Liebes- oder Gewaltakten miteinander zu verschmelzen, sie umschlingen sich und halten ihre Köpfe aneinander in einer Art telepathischem Austausch.
In Absorb (2025) beugen sich zwei Figuren über eine liegende, die ihr Gesicht nach oben richtet und die Lippen geöffnet hat – sei es in einem Moment der Ekstase oder einer tiefen, höchstpersönlichen und möglicherweise erschreckenden Erkenntnis. Penetration (2025), zeigt Kopf, überstreckten Hals und Brust einer Figur aus der Vogelperspektive. Dunkle Hände liegen auf ihrer bleichen Brust; von der Perspektive her könnten es ebensogut die Hände des Betrachters sein. Sehen wir Sex oder die letzten Segnungen eines Sterbenden? Xie Lei verrät es uns nicht, seine Leinwände behalten ihr Geheimnis und damit ihre Kraft.
„Es geht“, sagt er, „um die Ambiguität menschlicher Beziehungen. Kontrollieren und kontrolliert werden.“ Bei aller Ambiguität ziehen die Darstellungen einen mit ihren Chiaroscuro-Effekten magnetisch an. Der Farbauftrag ist dünn, nie pastos. Die Helligkeit, die aus dem Dunkeln leuchtet, ist keine weiße Farbe, sondern bleiche Leinwand. „Manchmal“, sagt der Künstler, „bemühe ich die Analogie mit dem Bildschirm, bei dem die Helligkeit aus dem Hintergrund des Bildes kommt oder zu Leinwänden im Kino, worauf projiziert wird.“
Indem er aufgetragene Ölfarbe mit den Fingerspitzen wieder abkratzt, stellt Xie Lei auch körperlich einen direkten Kontakt zwischen Künstler und Werk her. Mit Gestik und Physiognomie schreibt er sich in die eigenen Bilder ein. Die Serie von Arbeiten auf Papier im ersten Obergeschoss ist in einer Reihe gehängt, die sich durch die Zwischenwand fortzusetzen scheint. Manche haben etwas von Röntgenbildern – nur dass dort, wo auf der Röntgenaufnahme die undurchdringlichere Materie weiß ist, hier die abgetragene Farbe erscheint: also die Abwesenheit der Malerei.
Auf den Titel sei er übrigens über den Umweg eines zeitgenössischen deutschen Romans gekommen. Verwirrnis von Christoph Hein erschien 2018 und beschreibt die lebenslange, von gesellschaftlichen Zwängen geprägte Liebesgeschichte zweier Männer in der DDR, die ihre Beziehung über Jahrzehnte im Verborgenen halten müssen. Mit dem Roman selbst hat die Ausstellung nicht direkt zu tun, so Xie. Seine Inspiration gewinne er aus der Literatur ebenso wie aus dem Kino oder dem Tanz, er sieht sich überall um. „Ich glaube, Maler zu sein bedeutet, Dinge zu sehen und in sich aufzunehmen, die ich selbst nicht hervorbringe – mir etwas auszuleihen, vielleicht sogar zu stehlen und dabei doch ich selbst zu bleiben.“
Durch den Malprozess grundlegend transformiert und zu neuen Bedeutungszusammenhängen amalgamiert, wirken diese Gemälde, als seien sie aus Träumen des Künstlers entsprungen. Tatsächlich sind die Bildvorlagen eine sehr heterogene Mischung, die Xie aus dem Netz fischt, aus eigenen Beobachtungen und Erinnerungen aufruft oder aus Zeitungen schneidet. Wir alle leben längst in einer Welt des visuellen Überflusses, wobei die meisten dieser Bilder allerdings spurlos an uns vorbeiziehen. Malerei, als Akt der Auswahl und Bearbeitung, vollzieht die Entstehung eines Bildes parallel zu dessen physischer Vorlage, sie formuliert sozusagen in eigenen Worten, anstatt nachzuplappern und bezeugt, in Xies Fall, die Zustände, in denen sich die Figuren befinden. Die Präsenz der eigenen Hand im Werk und der taktile Aspekt seiner Malerei seien ihm wichtig, sagt Lei. „Wenn wir etwas spüren können, dann können wir auch daran glauben. Wenn wir etwas nicht berühren können, können wir nicht daran glauben. Ich finde es sehr interessant, diesem Aspekt nachzugehen.“
(Text von Boris Pofalla)