Menschen auf der ganzen Welt trauern um Professor Pier Luigi Luisi (1938–2025). Er hatte einen unglaublich positiven Einfluss auf mein Leben und meine Karriere, ebenso wie auf das Leben und die Karriere unzähliger anderer Menschen. Er war ein brillanter Wissenschaftler und Professor an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich, auch bekannt als ETH Zürich, wo er mehr als 30 Jahre lang tätig war. Seine vielleicht größte Fähigkeit war es, so viele wunderbare Menschen zusammenzubringen, die lebenslange Freundschaften schlossen. Die Forschungsarbeiten von Professor Luisi und den vielen Menschen, deren Leben er berührt hat, wurden weltweit als wegweisend auf dem Gebiet der chemischen Autopoiese und minimaler Zellsysteme anerkannt.

Er wurde am 23. Mai 1938 in Piombino in der Toskana geboren. Den größten Teil seiner Kindheit verbrachte er auf der Insel Elba. Er studierte in Pisa und schloss 1963 sein Studium der Chemie an der Scuola Normale Superiore di Pisa mit Auszeichnung ab. Einen Teil seiner Forschungsarbeit absolvierte er an der Universität Sankt Petersburg (Russland) in der Gruppe von Professor Mikhail V. Volkenstein. Er arbeitete bis 1967 an der Scuola Normale. Anschließend hatte er Postdoktorandenstelle in der Gruppe von Professor S. Claesson an der Universität Uppsala (Schweden) und am Center Macromoleculaire in Straßburg (Frankreich) sowie in der Gruppe von Professor Sidney A. Bernhard an der University of Oregon in Eugene (USA). Dort lernte er einen Doktoranden namens Ron MacQuarrie kennen. Ron promovierte und wurde anschließend Professor an der University of Missouri – Kansas City, wo ich sein Student war. Als ich meine Promotion abschloss, erzählte ich Ron, dass ich einen Forschungsaufenthalt als Postdoktorand in Europa absolvieren wollte.

Daraufhin stellte er mich Professor Luisi vor, der Professor an der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) in Zürich geworden war. So erhielt ich ein Postdoktorandenstipendium und arbeitete von 1979 bis 1980 in seinem Labor. Ich forschte über die Enzymaktivität in Wasser-Öl-Mikroemulsionen, auch umgekehrte Mizellen genannt. An der ETH habe ich viele wunderbare Menschen kennengelernt, von denen einige zu Freunden fürs Leben wurden. Dazu gehören Peter Walde und Karel Zeman sowie Professor Luisi. Ausserdem habe ich die friedliche Schweizer Gesellschaft und die Vielfalt der dort gesprochenen Sprachen geliebt. Das multidisziplinäre System an der ETH hat mir sehr gut gefallen. Es hat meine Karriere ins Rollen gebracht und später zu viel Erfolg geführt.

Ich verfolgte die Arbeit von Professor Luisi, der sich in viele Bereiche verzweigte und ein großes Netzwerk von Mitarbeitern und Freunden aufbaute. Seine Veröffentlichungen über die Ursprünge und Definitionen des Lebens, chemische Autopoiese und Spiritualität haben mich viel gelehrt. Er lernte von Humberto Maturana und Francisco Varela sowie der Santiago-Schule in Chile 1. Sie wollten die Fragen „Was ist Leben und was ist Kognition?“ beantworten. Diese Arbeit führte zu einer Beschreibung der Autopoiese. Sie schrieben:

  • „Lebende Systeme wandeln Materie in sich selbst so um, dass das Produkt ihre eigene Organisation ist. Wenn man ein lebendes System betrachtet, findet man immer ein Netzwerk von Prozessen oder Molekülen, die so miteinander interagieren, dass sie genau das Netzwerk erzeugen, das sie selbst hervorgebracht hat und das ihre Grenzen bestimmt. Ein solches Netzwerk bezeichnen wir als autopoietisch.“ 2-3

Autopoiese ist die Fähigkeit lebender Systeme, sich selbst zu zerlegen und wieder neu aufzubauen, während sie ihre Selbstorganisation aufrechterhalten. Zellen und alle lebenden Organismen sind Systeme, die ihre eigenen Bestandteile auf Kosten von Nährstoffen und Energie produzieren, die sie aus der Umwelt beziehen 4. Der wissenschaftliche Ansatz zur Beschreibung und Untersuchung autpoietischer Systeme bezeichnet man als „systemisches Denken“, auch bekannt als „Systemwisschenschaft“5-6. Francisco Varela stellte Professor Luisi Fritjof Capra vor, der mehrere Bücher über Systemwissenschaft und die Ganzheitlichkeit des Lebens geschrieben hat. Die Systemwissenschaft betont, dass das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile. Das Gehirn ist nur in der Vorstellung reduktionistischer Denker ein separates Organ.

Sie versuchen möglicherweise zu untersuchen, wie das Gehirn den menschlichen Körper steuert – als wären sie voneinander getrennt. Das sind sie jedoch nicht. Das, was wir als Gehirn bezeichnen, ist Teil eines weitverzweigten Netzwerks. Es ist Teil des neuroendokrinen Immunsystems. Das enterische Nervensystem im Darm enthält genauso viele Neuronen wie das Gehirn in unserem Schädel. Es wird durch die Zusammensetzung der Bakterien in unserem Darm beeinflusst – das Darmmikrobiom. Darüber hinaus befinden sich mindestens 99 % unserer proteinkodierenden Gene in den Bakterien und Viren in unserem Körper. Der menschliche Körper ist also eine komplexe Mischung aus Viren, Bakterien und menschlichen Zellen, die auf vielfältige Weise miteinander interagieren.

Als ich an der ETH studierte, stand Professor Luisi der Betonung, die die meisten Biochemiker der Rolle der DNA und der Genetik bei der Steuerung des menschlichen Körpers beimessen, skeptisch gegenüber. Das menschliche Genom galt als Blaupause des Lebens. Es enthielt alle Anweisungen, die zur Erschaffung eines Menschen notwendig waren. Es gibt auch etwas, das als zentrales Dogma der Biochemie bezeichnet wird – DNA kodiert für RNA, die wiederum für Proteine kodiert. Das heißt, Informationen fließen von der DNA zur RNA und nicht von der RNA zur DNA. Heute wissen wir, dass dies falsch ist. Stattdessen hat uns die Systemwissenschaft gelehrt, dass die DNA weder kausal noch epistemologisch privilegiert ist.

Die DNA im genetischen Code sowie die RNA und Proteine können durch eine zusätzliche Kontrollschicht, die Epigenetik, modifiziert werden 7. Das heißt, funktionelle Gruppen wie Methyl, Zucker und Phosphat können an Proteine gebunden werden und deren Funktion verändern. Proteine können sich an Teile des Genoms binden und steuern, ob und wann ein Gen transkribiert wird. Professor Luisi (und viele andere) hatten also Recht – DNA ist kein Bauplan, und wir sind nicht wie ein Stromkreis in einer Maschine fest verdrahtet. Wir sind keine Maschinen. Wir erschaffen uns selbst. Unser Körper und unsere Zellfunktionen werden von einem komplexen Netzwerk interagierender Systeme beeinflusst, die in einer Vielzahl von Rhythmen arbeiten.

Darüber hinaus wandte Professor Luisi bei der Zusammenarbeit mit anderen Menschen das Systemdenken an. Er ermutigte uns, unsere Ideen zu äußern – auch wenn sie sich als falsch herausstellten. Er förderte kritisches Denken und schätzte die Meinung jedes Einzelnen. Er bestand auch darauf, dass die Menschen für ihre Arbeit die angemessene Anerkennung erhielten. Er hörte uns zu, und wir hörten ihm zu. Manchmal kehrten sich die Rollen von Lehrer und Lernenden um. Er war immer offen dafür, von seinen Studierenden zu lernen. Natürlich waren wir sehr glücklich, von ihm zu lernen.

Einige Jahre nachdem ich die ETH verlassen hatte, trafen sich Fritjof Capra und Professor Luisi und begannen ihre Zusammenarbeit. Fritjof Capra schrieb Bücher, die viele Menschen, darunter auch mich, inspirierten. Er schrieb über verborgene Zusammenhänge8. Das heißt, nicht alle Verbindungen im Netz des Lebens sind direkt oder leicht zu erkennen. Ihre Zusammenarbeit dauerte viele Jahre. Fritjof Capra und Professor Luisi schrieben ein Bestseller-Buch mit dem Titel „The Systems View of Life” (Die Systemansicht des Lebens) 9. Es wurde ins Italienische, Spanische, Brasilianische Portugiesisch, Japanische und Russische übersetzt.

Im Jahr 2003 wurde Professor Luisi an der ETH Zürich pensioniert. Er setzte danach aber seine Forschung an der Università degli Studi Roma Tre in Rom fort und initiierte 2018 die Gründung der Vereinigung „Cortona Friends“, nachdem die von ihm 1985 an der ETH ins Leben gerufene und von der ETH während Jahren unterstützte Cortona-Woche 2017 eingestellt worden war. Bei der Cortonawoche handelt es sich um eine einwöchige Tagung, die in Cortona, Italien, begann und dort auch bis 2017 durchgeführt wurde. Sie richtete sich in erster Linie an Doktorierende und junge Forschende der ETH.

Auch wenn die Studierenden es schaffen, hervorragende Spezialisten in Wissenschaft und Technik zu werden, reicht dies nicht aus. Um die Probleme und Chancen in unserer komplexen Welt anzugehen, sollten die Menschen vielfältiger werden. Wir müssen viele Disziplinen lernen und unsere Spiritualität und die dieser heiligen Biosphäre, auf der wir leben – genannt Gaia oder Mutter Erde – erkennen. Ab 2018 wurde die Cortonawoche an verschiedenen Orten in Italien von den Cortona Friends unter der Leitung und grossem Engagement von Professor Luisi im Stil der ETH Cortonawoche weitergeführt.

Die Gruppe von Professor Luisi forschte in verschiedenen Bereichen. Sie untersuchte Mikrometer-grosse Riesenvesikel aus Phospholipiden, Mikroemulsionsgele und kleine Liposomen, die als Wirkstofftransportsysteme nützlich sind 10. Außerdem forschte sie an der Entwicklung von Proteinen, die in der Natur nicht vorkommen – den sogenannten „nie geborenen Proteinen“ 11. Professor Luisi schrieb auch ein Buch über die Entstehung des Lebens 12-13. Dies führte zu weiteren Forschungen durch unzählige andere Wissenschaftler. Obwohl sie nicht direkt an der Entwicklung von Lipidnanopartikeln beteiligt waren, führten Forschungen auf dem Gebiet der Liposomen in verschiedenen Labors zur Entwicklung von mRNA-Lipidnanopartikeln als Impfstoffe gegen Covid-19 14.

Professor Luisis Forschung zu nie geborenen Proteinen führte zu zahlreichen Ergebnissen und trug zur Entwicklung neuer Peptide und Proteine mit programmierbaren Funktionen bei 15.

Professor Luisi war auch ein spiritueller Mensch, der an die Ganzheitlichkeit des Lebens glaubte. Er war Mitglied des „Mind and Life“ Instituts, wo er den Dalai Lama und Bruder David Steindl-Rast kennenlernte. Er war Gründer und spiritueller Leiter der Cortona-Woche und der Cortona-Freunde 16-18.

Professor Luisi lud mich ein, 2018 bei der neu initiierten Cortona-Woche in Todi, Italien, zu referieren, kurz nachdem meine Frau verstorben war. Dort traf ich viele wunderbare Menschen, darunter Bruder David Steindl-Rast und Antonio Vergara Meersohn. Beim Frühstück am ersten Morgen stand Bruder David neben mir, weil er viel Frieden in mir spürte. Ich kämpfte gegen die Tränen an, weil ich keinen solchen Frieden empfand. Meine geliebte Frau war nur sieben Wochen zuvor nach einem langen Kampf mit einer Nierenerkrankung verstorben. Bruder David und so viele andere (darunter meine lieben Freunde und spirituellen Schwestern Hortense Reintjens-Anwari und Irene Reintjens) halfen mir, Frieden zu finden und den Weg der Trauerbewältigung zu beschreiten.

Es ist daher angemessen, dass ich diesen Beitrag mit einem Segensspruch von Bruder David beende: „Quelle aller Segnungen, du segnest uns mit Erinnerung – dieser gemeinsamen Sammlung der Vergangenheit in der Gegenwart, die es uns ermöglicht, Gesichter zu erkennen, Gedichte auswendig zu lernen, unseren Weg zurückzufinden, wenn wir verloren sind, und Altes und Neues aus ihrem schier unerschöpflichen Vorrat hervorzubringen. Möge ich wissen, was ich vergeben und vergessen und was ich bewahren und schätzen soll, indem ich mir die kleinste mir erwiesene Freundlichkeit vor Augen halte und ihre Wellen lange Zeit ausbreite.“

Danksagung

Ich möchte den Mitgliedern der ehemaligen Luisi-Gruppe an der ETH und der Cortona Friends Association für ihre Kommentare und Ratschläge danken.

Anmerkungen

1 Luisi, P.L. The Santiago school. Autopoiesis and the biologics of life. Meer, 29 Feb. 2016.
2 Maturana H. and Varela F. De Máquinas y Seres Vivos. Autopoiesis: La Organización de lo vivo. Editorial Universitaria, Lumen, 1994.
3 Maturana H. and Varela F. Autopoiesis and Cognition. Dordrecht: Reidel Publishing Company, 1980.
4 Luisi, P.L. Systems thinking and its implications. The principle of interdependence. Meer, 29 Januar, 2016.
5 Luisi, P.L. The Cortona-week experiment. The question of transdisciplinarity between science and humanities. Meer, 23 June 2016.
6 Luisi, P.L. Reductionism in Biology. Reversing the Bottom-up Approach to the Origin of Cellular Life. Meer, 23 June, 2018.
7 Jalilian, Z. Epigenetic reprogramming in cancer: diagnosis and treatment. Exploring the impact of epigenetic alterations on cancer progression and therapeutic strategies. Meer, 8 Februar, 2025.
8 Capra, F. The Hidden Connections. A Science for Sustainable Living. First Anchor Books, 2004.
9 Capra, F. & Luigi, P.L. A Systems View of Life: A Unifying Vision. Cambridge University Press, Cambridge, UK, 2014.
10 Luisi, P.L. & Walde, P. Giant Vesicles (Perspectives in Supramolecular Chemistry). John Wiley & Sons, 2008.
11 Luisi, P.L. The never born proteins. A big debate. Meer, 23 August, 2018.
12 Luisi, P.L. The Emergence of Life, 1st ed. Cambridge University Press. 2006.
13 Luisi, P.L. The Emergence of Life, 2nd ed. Cambridge University Press, 2016.
14 Walde, Peter, and Sosaku Ichikawa. "Lipid vesicles and other polymolecular aggregates—from basic studies of polar lipids to innovative applications". Applied Sciences 11.21 (2021): 10345.
15 Kortemme, Tanja. "De novo protein design - from new structures to programmable functions" . Cell 187.3 (2024): 526-544.
16 Cortona Friends. Cortona Week.
17 Cortona Friends. Brother David Steindl-Rast.
18 Luisi, P.L. & Houshmand, Z. Mind and Life: Discussions with the Dalai Lama on the Nature of Reality (Columbia Series in Science and Religion). Columbia University Press, New York, 2009.
19 Brother David Steindl-Rast. 99 Blessings, an Invitation to Life. Random House, Ney York, 2013.