Obwohl es heute keine zeitgenössischen Kritiker mehr gibt, die die Gotik als Baustil ablehnen, wurde sie in der Vergangenheit lange Zeit als verderbt bezeichnet. Die Gotik, die zwischen dem 12. und 15. Jahrhundert ihre Blütezeit erlebte, war eine wunderbare Epoche, in der verschiedene Künste auf wunderbare Weise zusammengeführt wurden. Denn der wunderschöne gotische Stil war nicht nur in der Architektur zu bewundern, sondern er schmückte auch die Plastik und die Malerei auf wundersame Weise.

Bereits im 16. Jahrhundert beschrieben mehrere italienische Humanisten und Kunsthistoriker die mittelalterliche Kunst und Architektur als „barbarisch“. Zu ihnen gehörten unter anderem Flavio Biondo (1392–1463), Antonio Averlino (1400–1469), Raffaello Sanzio (1483–1520) und Francesco Milizia (1725–1798). Sie vertraten die Ansicht, dass sich mittelalterliche Kunst durch Verfall und Geschmacklosigkeit gekennzeichnet.

Giorgio Vasari (1511–1574) bezeichnete in seinem Werk Vite die mittelalterliche Architektur als maniera tedesca (deutsche Manier) oder „gotisch“ (von Gote abgeleitet, was sich auf ein ostgermanisches Volk bezieht, das zwischen dem 2. und 7. Jahrhundert wirkte). In dieser Zeit war die Bezeichnung „gotisch” bedauerlicherweise ein Schimpfwort. So entstand der Begriff „Gotik“, der eng mit den germanischen Völkern verbunden ist, da die ersten Kathedralen mit dieser Bautechnik in diesem Teil Europas, genauso wie in Frankreich, errichtet wurden.

Strukturelle Elemente der Gotik

Die gotische Architektur zeichnet sich durch eine höhere Struktur aus, die im Gegensatz zur romanischen Architektur mehr Platz und eine neue Art von kirchlichem Raum schafft. Tatsächlich kann die Gotik nicht nur als eine architektonische Tendenz betrachtet werden, sondern stellt vielmehr eine umfassende Revolution in der Statik dar. Der Grund dafür war das Hauptelement der Struktur, der Spitzbogen, dessen Konzept keinen fremden Einfluss hatte, sondern eine ursprüngliche, hochentwickelte Erfindung germanischer und gallischer Baumeister für Türen und Fenster darstellte. Die Analyse von Proben und Berechnungen ergab, dass die Schubkraft1, die in einer herkömmlichen römischen Bogenkonstruktion üblicherweise höher ist, reduziert wurde. Infolgedessen erfüllten die Wände nicht die Anforderungen an Trägerwände. Das auf den ersten Blick unbedeutende Detail stellte den Ausgangspunkt für die überragende Änderung in der Architektur dar, die eine große Wirkung entfaltete und somit den Weg bereitete, andere Künste zu integrieren. Die Wände wurden somit nicht nur dünner, sondern es war sogar möglich, sie höher zu bauen.

Im Gegensatz zu Rundbögen sind Spitzbögen nicht an ein festes Verhältnis von Spannweite und Höhe gebunden. Beim Spitzbogen leiten sich die Kräfte viel steiler nach unten ab, was die Mauer nicht mehr seitlich belastet. Die Rippengewölbe stellen die verantwortlichen Elemente der Spannweite dar. Die Zwischenräume zwischen den aneinandergereihten Spitzbögen sind dabei zu berücksichtigen. Es ist hervorzuheben, dass die Rippengewölbe unabhängig von den Spitzbögen sind. Dies ermöglicht die Kombination unterschiedlicher Bögen.

Wie Sie sicher bereits wissen, bildeten die kreuzenden Rippen der Rippengewölbe auch Spitzbögen, allerdings mit erweiterten Bögen. In der Entwicklung der gotischen Architektur zeigen sich in den verschiedenen Phasen der Früh-, Hoch- und Spätgotik sowie in den an diese Architektur angelehnten Stilen in den verschiedenen Ländern, in denen diese Stilrichtungen Verbreitung fanden, deutliche Fortschritte. Zu den Ländern, in denen die gotische Architektur eine bedeutende Rolle spielte, zählen Deutschland, Frankreich, England und Spanien.

Aufgrund der damals noch nicht so präzisen Berechnungen und der teilweise empirischen Anwendung von Variablen und Konstanten kam es zum Einsturz. Ein Beispiel ist die Kathedrale von León in Spanien, deren Rippengewölbe des rechten Flügels mit Gemäuer zusammenbrach und sogar zweimal wiederaufgebaut werden musste. Das Querschnittthema Statik ist der Auslöser für mehrere Artikel, da die Berechnungsmethoden voneinander abwichen.

Folge der neuen kirchlichen Räume in der gotischen Architektur

Regenwasserableitung

Die Architekten beschäftigten sich mit einem neuen Konzept der Räumlichkeit und entwickelten neuartige Grundrisse2, deren Form oft an den Enden abgerundet war oder weitere angeschlossene Kapellen enthielt. Aus diesem Grund sind größere Dachflächen entstanden, die ein größeres Regenwasservolumen aufweisen. Die Herausforderung, dünnere Wände und tiefere Fundamente zu konstruieren, stellte ein zusätzliches Hindernis für Baumeister und Architekten dar. Wie wurde diese Problematik gelöst? Aufgrund der Notwendigkeit, das gesamte Regenwasservolumen möglichst effizient abzuleiten, wurde ein aus Stein gehauenes Kanalnetz entworfen, das aus Kanälen und Rinnen besteht. Diese technische Lösung zeichnet sich dadurch aus, dass die Dächer in der Regel eine starke Neigung aufweisen, die in der Regel bei 50° oder mehr liegt. Dies hat zur Folge, dass das Regenwasser deutlich schneller abfließt und nicht so lange auf den Dachflächen verbleibt.

Das Kanalnetz transportiert ein höheres Wasservolumen, daher sollten die Kanäle einen wesentlich tieferen Querschnitt haben. Um eine effektive Ableitung des Wassers zu gewährleisten, skizzierten die Baumeister verschiedene Ableitungswege. Die meisten davon führten durch die Strebewerke3 außerhalb der Mauer und endeten in den Wasserspeiern. Diese dienten als Auslauf und trugen zur Entwässerung bei. An dieser Stelle ist es angebracht, darauf hinzuweisen, dass der Wasserspeier in der Gotik eine besonders künstlerisch ausgeprägte Form erfuhr. Sie repräsentierten Fabelwesen, Drachen oder Mischwesen zur Abschreckung böser Geister.

Oft waren Strebebögen oder Strebepfeiler Hohlelemente, die das Wasser von den oberen Dachbereichen in niedrigen Höhen durch Rinnen oder Kanäle direkt zu den Wasserspeiern führten. Nach dem Ausfluss fiel das Regenwasser in Steinrinnen oder Gräben, die ebenfalls zum Entwurf gehörten. Mit dieser Methode vermieden es alte Ingenieure und Architekten, empfindliche Mauern und Fundamente dem Wasser auszusetzen.

Blütezeit der Glasmalerei

Aufgrund der neuen Statik waren die neuen Räume heller und höher. Da die Lastableitung der Gemäuer geringer war, konnten diese mit großen Fensterflächen geschmückt werden. Die Architekten entwarfen die Gruppenfenster – angereihte Fenster mit Spitzbögen, wobei die mittlere etwas höher war, um einen äußeren umschriebenen Spitzbogen trassieren zu können – sowie die Rosette. Beide neuen Lichtöffnungen verursachten die Blütezeit der Glasmalerei.

Ab dem 12. Jahrhundert erreichte diese Kunst ihren Höhepunkt: Fenster wie in den Kathedralen von Reims, Chartres oder Köln sind bis heute sehenswert. Hierbei kam ein neues Verfahren mit Blei zum Einsatz, um prächtige Farben und bessere Konturen zu erzielen. Die sogenannte Bleiverglasung erlaubte es, kleinere Glasstücke zu verbinden, wodurch sich detaillierte Szenen darstellen ließen. Bei der Bleiverglasung wurden Bleiruten mit einem offenen H-Profil verwendet. In diese Schienen wurden die Glasstücke entlang des zurechtgeschnittenen Teils hineingeschoben, sodass beliebige Formen gebildet werden konnten. Letztendlich bauten die Künstler eine Art Puzzle, das durch die Bleiruten zusammengehalten wurde.

Im nächsten Schritt wurden die Kreuzungspunkte der Bleistege verlötet und abschließend wurde die gesamte Glasfläche mit einem speziellen Kitt abgedichtet. Letzteres machte das Fenster wetterfest und stabil. Aufgrund der riesigen Flächen konnten Künstler die gute Botschaft übermitteln und komplette Geschichten aus dem Alten oder Neuen Testament darstellen, je nach Thematik.In zahlreichen europäischen Ländern gab es Werkstätten für Glasmalerei, darunter namhafte wie die Ulmer Glasmaler-Werkstatt oder die Glasmalerei "York und Canterbury" in England. Glasmaler wurden traditionell als Handwerker und keine als Künstler angesehen. Zu den herausragenden Künstlern zählten Wilhelm von Köln, der an der Kölner Domwerkstatt tätig war, Peter Hemmel von Andlau, der in Augsburg, Straßburg, Ulm und weiteren Städten bekannt war, sowie Valentin Bousch, der in der Übergangszeit von der Spätgotik zur Renaissance wirkte.

Fazit

Die gotische Architektur erfuhr ab der Renaissance eine geringere Wertschätzung, da die Architekten und Baumeister zu dieser Zeit über ein umfangreicheres Fachwissen verfügten, insbesondere in den Bereichen Statik und Geometrie. Sie errichteten größere und massiveren Baukörper, die eine geringere Abhängigkeit von Strebewerken aufwiesen. Zudem berechneten sie eine bessere Lastverteilung durch Kuppeln und Tonnengewölbe.

Zu den herausragenden Merkmalen der gotischen Architektur zählen filigrane Strukturen mit Strebebögen, die ersten Spitzbögen, Rosetten, komplexe Grundrisse, ein höheres Schlankheitsverhältnis der Struktur, dünne Wände und eine unklare Symmetrie. Diese Elemente prägten die gotische Architektur und deren Zeit und sind bis heute von einer gewissen Rätselhaftigkeit umgeben.

Anmerkungen

1 Horizontale Kraft, die Bauteile auseinander drückt.
2 Vogelperspektive der Raumaufteilung eines Gebäudes.
3 Äußeres Tragwerk zur Ableitung von Schubkräften in gotischen Bauten.
4 Äußerer Stützpfeiler zur Ableitung von Schubkräften.