2021 und 2023 hat der Kanton Waadt seine Fotografische Untersuchung gestartet: eine Ausschreibung für professionelle, aus dem Kanton Waadt stammende oder dort tätige Fotograf:innen, mit dem Ziel, ein Projekt zu jeweils einem Thema aus dem Inventar des immateriellen Kulturerbes des Kantons zu entwickeln. Dieses rund 75 Einträge umfassende Verzeichnis listet die Traditionen und Bräuche, die die Besonderheit des lebendigen kulturellen Erbes des Kantons ausmachen.
Auf Grundlage ihrer Bewerbungsmappen wurden sechs Fotograf:innen von einer Fachjury für die Umsetzung ihrer Projekte ausgewählt: Thomas Brasey, Olga Cafiero, Sarah Carp, Matthieu Gafsou, Yves Leresche und Romain Mader. Im Rahmen eines Stipendiums hatten die Preisträger:innen fast ein Jahr Zeit, Recherchen durchzuführen und ihre eigene Fotoserie zu entwickeln, die einen bestimmten Brauch oder eine besondere Tradition der Region dokumentiert.
Zur Archivierung wurden diese Arbeiten in digitaler Form in den sogenannten Iconopôle der Kantons- und Universitätsbibliothek Lausanne sowie in physischer Form in die Sammlung des Photo Elysée aufgenommen.
Die Dokumentation eines geographischen Gebiets mit Hilfe von Fotografie ist eine Vorgehensweise, die bis zu den Anfängen des Mediums zurückreicht und sich durch dessen gesamte Geschichte bis in die jüngste Gegenwart zieht. Seit jeher galt der Fotograf als die Person, die am besten in der Lage ist, seine Umgebung zu dokumentieren und soziale, wirtschaftliche und kulturelle Veränderungen für zukünftige Generationen festzuhalten.
Daher findet man einige der bekanntesten Namen der Fotografie unter denjenigen, die sich dieser Herausforderung gestellt haben, welche gleichzeitig ein aktuelles Zeitzeugnis und ein Archiv für die Zukunft liefert. Im Jahr 1851 waren dies Gustave Le Gray, Édouard Baldus und Hippolyte Bayard, um nur drei der Wegbereiter zu nennen, die an der von der französischen Denkmalschutzbehörde „Commission des monuments historiques de France“ in Auftrag gegebenen fotografischen Expedition „Mission Héliographique“ teilnahmen. 130 Jahre später, ebenfalls in Frankreich, gehörten insbesondere Robert Doisneau, Gabriele Basilico, Josef Koudelka und Sophie Ristelhueber zu den Künstler:innen der Fotomissionen der DATAR (Délégation à l'aménagement du territoire et à l'action régionale, Interministerielles Amt für Raumordnung und die Attraktivität der Regionen). Unterdessen waren im Rahmen dieser umfangreichen Dokumentationskampagnen auch soziale Fragen stärker ins Bewusstsein gerückt – insbesondere durch die fotografische Praxis des US-amerikanischen Hilfsprogramms Farm Security Administration (FSA) während der Weltwirtschaftskrise, für das Walker Evans, Dorothea Lange und Gordon Parks bedeutende fotografische Beiträge leisteten.
In der Schweiz ist diese Tradition zwar jünger, aber nicht minder lebendig: Der Kanton Waadt ist nach Freiburg, Genf, Wallis, Neuenburg und dem Berner Jura bereits der sechste Kanton, der sich dieser Mission annimmt. Auch hier trifft man auf die vielversprechendsten Namen der zeitgenössischen Schweizer Fotografie.
Allerdings geht es heute nicht mehr um die fotografische Bestandsaufnahme eines baugeschichtlichen kulturellen Erbes, wie dies bei Baldus, Bayard oder Le Gray noch der Fall war. Die sechs Künstler:innen der Enquête photographique vaudoise stellen sich einer bemerkenswerten Aufgabe: Sie arbeiten mit einem immateriellen Kulturerbe – also einem Kulturerbe, das von Natur aus schwer greifbar sein dürfte.
Mit Blick auf die komplexen Darstellungs- und Übertragungsmöglichkeiten, die das Immaterielle mit sich bringt, hat sich jede:r Teilnehmende das Thema seiner oder ihrer Wahl aus dem vom Kanton Waadt erstellten Repertoire herausgesucht. Da das Programm grossen Wert auf die Subjektivität der jeweiligen Perspektive und den Blick des Autors/der Autorin legt, hatten die Künstler:innen dabei absolute kreative Freiheit. So konnte jede:r eine persönliche und einzigartige Vision zu ihrem oder seinem jeweiligen Thema entwickeln, die uns das Waadtland durch diese Linse (neu) entdecken lässt. Begleiten Sie Olga Cafiero bei ihrer Neuinterpretation des Messager boiteux, tauchen Sie mit Matthieu Gafsou in die Welt der Landjugend ein, begeben Sie sich mit Thomas Brasey auf die Suche nach den Räubern des Jorat und bewundern Sie mit Sarah Carp das handwerkliche Können der Kunstmechanik. Schliessen Sie sich mit Yves Leresche dem Zirkus Helvetia an, und erfahren Sie mit Romain Mader alles über die Zubereitung des Waadter Klassikers Papet vaudois. So viele erschaffene Universen, kleine, eigenständige Welten, die jedoch alle miteinander verbunden sind und vom Reichtum und den vielfältigen Facetten des Kantons Waadt erzählen. Manchmal reicht es schon, einfach den Blick zu heben.