Inwieweit kann Kunst Ereignisse vorwegnehmen? Keine Frage, dass Künstler gesellschaftliche Veränderungen wahrnehmen und diese in ihren Werken verarbeiten. Nur selten kommt es allerdings vor, dass Menschen ein derart intensives Gespür für zeitgenössische Tendenzen entwickeln, sodass ihre Arbeiten im Nachhinein wie Prophezeiungen erscheinen. Emil Nolde (1867-1956) schuf im Jahr 1913 drei solcher Bilder, die vor dem Grauen und dem Blutvergießen des Ersten Weltkrieges zu warnen scheinen: Erregte Menschen, Krieg und Soldaten.

Die drei Gemälde zeigen Reihen uniformierter Infanteristen, deren leere Augenhöhlen den Tod verkünden, zwei über mit dem Blut der Gefallenen getränkte Schlachtfelder galoppierende Reiter und verängstigte Fratzen im Angesicht des Schreckens – allesamt Gestalten einer sich anbahnenden Apokalypse.

Alle drei Szenen greifen zusammen den Wahn des aufziehenden Krieges auf. Zweifellos war die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg bereits von Krisen geprägt – mehr als einmal war der Kontinent der Katastrophe gerade noch einmal entkommen. Aber der Großteil der Bevölkerung war sich der Bedrohung nicht bewusst. Nachdem sich Nolde zuvor vor allem noch mit religiösen Themen beschäftigt hatte – der erste gewaltige Dreiklang biblischer Gemälde entstand 1909: Abendmahl, Verspottung, Pfingsten –, manifestierten sich nun in Noldes Geist wie aus dem Nichts Ideen der ausufernden Gewalt.

Nolde, von 1906 bis 1907 Mitglied der Künstlergruppe Die Brücke und ab 1909 Teil der Berliner Secession, begleitete im Anschluss an die Fertigstellung der drei genannten Arbeiten die Medizinisch-demografische Deutsch-Neuguinea-Expedition des Reichskolonialamtes, die ihn in verschiedene Länder der Südsee brachte. Noch währenddessen brach der Erste Weltkrieg aus.

Der Kunstkritiker Max Sauerlandt (1880-1934) konstatierte 1921 angesichts der drei Kriegsbilder: “Alle drei Gemälde mussten damals beziehungslos erscheinen und wurden so als rätselhafte Ausgeburten einer wilden Laune mit halbem Glauben, halbem Zweifel aufgenommen. Dem Zurückblickenden erscheinen sie heute als Zeugnisse einer dämonischen Sehergabe, beziehungsvoll der nächsten, heute im schnellen Ablauf der Ereignisse selbst schon wieder zur Vergangenheit gewordenen Zukunft eng verknüpft”. (Sauerlandt, Max, Emil Nolde, Kurt Wolff, München, 1921).

Die Formulierungen Sauerlandts sind heute erneut aktuell. Mehr noch, aus heutiger Sicht erscheinen auch Sauerlandts Worte als mahnende Charakterisierung seiner Zeit. Der von dem Kritiker erwähnte “schnelle Ablauf der Ereignisse” muss sich auf die anhaltenden politischen Kämpfe und ideologischen Spannungen in der Weimarer Republik bezogen haben. In der angespannten Situation der Zwischenkriegszeit warfen bereits neue, noch größere Schrecken ihren Schatten voraus. Schon bald würde der Kunstkritiker die Diktatur der Nationalsozialisten zu spüren bekommen.

Sauerlandt, seit 1919 Direktor des Hamburger Museums für Kunst und Gewerbe, geriet als Verfechter moderner Kunst bereits kurz nach der Machtergreifung Hitlers in die Fänge des Systems. Im Museum erhielt er Hausverbot, zudem verlor er seinen Lehrstuhl an der Hamburger Universität, wo er noch bis 1933 Vorlesungen gehalten hatte. Die von Sauerlandt nur vage angedeuteten Verhältnisse waren nur die Vorläufer der Ereignisse, die in der Herrschaft der Nazis mündeten.

In diese Entwicklungen war auch Nolde verwickelt. Nolde, gebürtiger Deutscher mit dänischem Pass, der stets die Überlegenheit der germanischen Kunst proklamierte, war früh in eine der vielen nationalsozialistischen Parteien Norddeutschlands eingetreten. Er sprach sich gegen jüdische Kunsthändler wie Paul Cassirer (1871-1926) und Maler wie Max Liebermann (1847-1935) aus und kämpfte gegen den Einfluss moderner französischer Stilrichtungen wie Impressionismus, Kubismus, Surrealismus, Fauvismus und Primitivismus.

Seine aufgeschlossene Einstellung gegenüber den Faschisten und offen antisemitische Äußerungen ließen ihn von Kreisen der Partei wohlwollend aufnehmen. Noch am Anfang des Nationalsozialismus sprachen sich einige in der Parteiführung für seine Arbeit und seine kunstpolitische Einstellung aus.

Im soganannten “Expressionismusstreit”, indem sich Goebbels, der die Kunstform als “deutsche, nordische Kunst” betrachtete, und Hitler, der strikt gegen moderne Kunst war, gegenüberstanden, stritt Goebbels für Nolde: “Wir Nationalsozialisten sind nicht unmodern; wir sind die Träger einer neuen Moderne, nicht nur in Politik und sozialen Bereichen, sondern auch in der Kunst und intellektuellen Bereichen”. (Adam, Peter, Art of the Third Reich, Harry N. Abrams, Inc., New York, 1992, S. 56). Doch Hitler setzte sich durch.

Noldes Gemälde wurden auf der Propagandaausstellung Entartete Kunst im Jahr 1937 gezeigt, sein Werk Leben Christi bildete sogar deren Mittelpunkt. Nolde wandte sich 1938 in einem Schreiben an Goebbels, in dem er sich selbst “als fast einzigster [sic] deutscher Künstler im offenen Kampf gegen die Überfremdung der deutschen Kunst” (Ralf Georg Reuth, Goebbels, Piper, München-Zürich, 1991, 2. Aufl., S. 368) bezeichnete.

Doch Nolde wurde weiter verfolgt, zahlreiche Bilder wurden beschlagnahmt oder zerstört. Wie Sauerlandt zuvor wurde ihm 1941 ein Berufsverbot erteilt, ausstellen durfte er bereits davor nicht mehr. Der einstige politische Unterstützer des Systems sah sich nun gezwungen, im Geheimen zu arbeiten. In dieser Zeit entstand die Reihe Ungemalte Bilder. So kann man ohne von Noldes eigenen Überzeugungen abzusehen sagen, dass er den Machtkämpfen innerhalb des Systems “zum Opfer fiel”.

Nach dem Zweiten Weltkrieg blieb Nolde ein Vorreiter der modernen Kunst. Er nahm 1955 an der documenta I teil, und seine Werke wurden postum auch 1959 auf der documenta II und 1964 auf der documenta III ausgestellt. Sauerlandt war bereits 1934 gestorben. Seine Ausführungen zeugen wie die Bilder Noldes von dem Gespür der beiden Kunstschaffenden für ihre Zeit. Die beiden stehen aber auch stellvertretend für die vielen Künstler, die versuchen, sich und ihre Arbeit in den Wirren der Zeit zu behaupten.

Texte von Tobias Baum