Zilberman | Berlin freut sich, die Soloausstellung Hedwig roth von Judith Raum anzukündigen. Hedwig roth (1906–1990), wie Judith Raum ihre Großmutter bewusst beim Mädchennamen nennt, führte als protestantische Pfarrfrau und Mutter von zwölf Kindern ein Leben, das von tiefem Glauben und von Verpflichtungen in Familie und Gemeinde geprägt war. Seit den 1920er Jahren entstand ein bemerkenswert eigenständiges Werk aus Scherenschnitten und Linoldrucken, das sich vor allem Darstellungen aus der Pflanzen- und Tierwelt sowie Porträts von Angehörigen und Bekannten widmet. Besonders eindrücklich ist die Figur eines Kindes am Fensterkreuz, die einerseits Begrenzung andeutet, andererseits auf den Wunsch nach Weite und ein Streben über das Gegebene hinaus verweist, ein Ausdruck jener Ambivalenz, die viele von Roths Arbeiten prägt. Die Möglichkeit eines eigenen Blicks auf die Welt nimmt Judith Raum in ihren großformatigen Wandbehängen auf, in denen Hände mit Schere und Brille, Werkzeuge gestalterischer oder kritischer Auseinandersetzung, das Format füllen.
Judith Raums recherchebasierte Praxis widmet sich unter anderem der Wiedereinschreibung des Werks marginalisierter Künstlerinnen in die Kunstgeschichte. In ihrer umfassenden Arbeit zur Bauhaus-Textilgestalterin Otti Berger (1898–1944), zuletzt vorgestellt im Bauhaus-Archiv Berlin und im Victoria & Albert Museum London, beleuchtete sie deren Beitrag zur Architektur der Moderne. In Hedwig roth verfolgt sie diesen Ansatz weiter, indem sie das Werk ihrer Großmutter erstmals außerhalb des Familienkreises zugänglich macht. Mit ihrer eigenen künstlerischen Praxis nähert sie sich diesem Material und dem gesellschaftlichen Umfeld, in dem es entstand, an, erschließt neue Zugänge und entwickelt in Reaktion auf Hedwig roths Linol- und Scherenschnitte eigene Techniken, durch die eine transgenerationale Berührung gleichsam als Abdruck erfahrbar wird. Zugleich stellt sie das Werk in einen offenen Bezug zu professionell wirkenden Künstlerinnen wie der britischen Textilgestalterin Dorothy Larcher (1884–1952), die, Einflüsse des Vortizismus, die englische Variante des Futurismus aufgreifend, gemeinsam mit ihrer Partnerin Phyllis Barron ein Stoffdruckunternehmen in London betrieb. Larchers abstrahierte, harte Pflanzenformen treffen in der Ausstellung auf die filigranen Scherenschnitte von Wildblumen Roths, die stets Pflanzengesellschaften in den Blick nahm: botanische Systeme, in denen statt einer dominanten Art eine Vielfalt koexistierender Formen existieren.
Die Ausstellung entfaltet sich als dichte, mehrschichtige Installation. Originale Arbeiten von Hedwig roth werden nach Motivgruppen oder ‚Familienähnlichkeiten’ auf nachtblauen Plexiglastischen präsentiert. Die weiche Materialität des Papiers, bearbeitet mit feinsten Schnitten, trifft auf den harten, transparenten Träger, dessen gebogenen Stahlbeine als Echoformen in zwei skulpturalen Arbeiten wiederkehren und einen erzählerischen Faden zwischen Erinnerung, räumlicher Geste und Körperhaftigkeit aufspannen. Eine dieser Skulpturen erinnert in ihrer Form an einen Standspiegel. Spiegel sind in Fotografien, die Hedwig roths Mann von seiner jungen Frau aufnahm, als Mittel der Inszenierung eingesetzt. Mit ihnen verbinden sich Fragen nach der ambivalenten Bedeutung von Körperlichkeit und Sexualität im protestantischen Pfarrhaus. Ein blauer Damenhandschuh mit zusammengenähten Fingern, einem Vogelfuß ähnelnd, ist spielerisch über einen schmalen Metallstab gestülpt. Raben und Fledermäuse, Wesen der Dämmerung und Dunkelheit, tauchen in Hedwig roths Werk wiederholt auf, und Judith Raum führt sie als Boten und Begleiter des Menschen in die Motivik der Ausstellung ein. Die zweite Skulptur nimmt die Form einer Liege auf: ein metallenes Bettgestell, bespannt mit einem Stoff, der einen Entwurf von Dorothy Larcher aufgreift. Das Motiv lässt Assoziationen mit menschlichen, tierischen und pflanzlichen Formen, etwa mit einem Farnblatt, zu. Auf Larchers Originalmuster erscheint das Wort „spine“ – was Wirbelsäule, Rückgrat, Grat bedeutet.
In großformatigen Textildrucken und Frottagen wiederum greift Judith Raum konkrete Themen aus den Linol- und Scherenschnitten ihrer Großmutter auf, wie die Frauenfigur am Fenster oder Darstellungen von Wiesenblumen. Einige der schwarz-weißen Drucke auf halbtransparenten Stoffbahnen erhalten durch unterlegte Farbflächen eine beinahe skulpturale Wirkung. Farbige Akzente auf den umgebenden Wänden lassen die Motive der Stoffbahnen lebendig hervortreten: Pflanzen-, Menschen- und Tiersilhouetten lösen sich allmählich vom Grund, schieben sich optisch in den Vordergrund, um bei längerem Hinsehen wieder hinter anderen Formen zurückzutreten, ein Spiel von Sichtbarkeit und Überlagerung.
Der Ausstellungsparcours führt schließlich zu einer Installation mit zwei Diaprojektionen. Auf textile Flächen werden Ausschnitte von Fotografien projiziert, die Hedwig roth frisch verlobt und als junge Mutter während der 1920er und 1930er Jahre inmitten ihrer ersten Kinder und in der Natur zeigen. Mithilfe eines Vergrößerungsglases suchte Judith Raum in den Alltagsszenen nach Details, in denen sich ein Nebeneinander kindlicher Freiheit, elterlicher Liebe und Autonomiestreben der Erwachsenen entfaltet. Die fotografischen Szenen stehen dabei im Kontrast zu einer historischen Wirklichkeit, die bereits von der totalitären Ideologie des Nationalsozialismus durchdrungen war. In inszenierten Sequenzen tauchen die Tätigkeiten des Gestaltens und Erzählens – Schere und Rabe – erneut auf und stehen zugleich für einen kritischen Umgang mit einer Vergangenheit, die von zwei Weltkriegen und faschistischen Diktaturen in Europa geprägt ist.
In ihrem Buch Orwell’s Roses beschreibt Rebecca Solnit, mit deren Werk sich Judith Raum beschäftigt hat, wie sich in Orwells Leidenschaft für seinen Rosengarten eine Haltung manifestiert: das Beharren auf Schönheit und Lebensfreude, gerade in finsteren Zeiten. Für Solnit ist diese Hinwendung zur Natur kein Rückzug, sondern eine Erweiterung des politischen Engagements – der Versuch, Räume zu schaffen, in denen Leben, Imagination und Widerstand gedeihen können. Auch im Werk von Hedwig roth zeigt sich eine Handlungsfähigkeit, die aus kleinen Gesten, beharrlicher Aufmerksamkeit und Fürsorge erwächst und in die Zukunft weist. Judith Raum greift diese Haltung auf und übersetzt sie in eine eigene künstlerische Sprache, in der sie als politisches und gestalterisches Potenzial in der Gegenwart wirksam wird.
(Text von Lotte Laub)