Schiffslogbuch, Jahr null. Tag 5.

Die Wucht, mit der uns die Ausbreitung der Selfies getroffen hat, war sicherlich geplant: die Begeisterung, ein Foto von unserem attraktiven Gesicht machen zu können, ohne dafür in ein Fotostudio gehen und dort Befehlen gehorchen zu müssen: Jetzt ein wenig nach rechts drehen, bitte lächeln, nein, nicht so!!! Ziehen sie ihre Nase straff, blasen sie ihre Wange nach links auf. Dabei hat uns unser wahnsinnig hohes Selbstwertgefühl fast überwältigt.

Was geschieht mit den Milliarden von Selfies mit unseren Gesichtern, die durch das Weitwinkel-Objektiv unseres Mobilgeräts verzerrt werden, wie in einer lächerlichen Komödie oder einer Karikatur?

Dieses globale Mysterium wird, so fürchte ich, selbst für die hartnäckigsten akademischen Gelehrten des menschlichen Verhaltens noch für lange Zeit unbegreiflich bleiben.

Solange uns jedoch diese Erkenntnis verwehrt wird, könnten wir unsere edelmütige Aufmerksamkeit einer anderen Ausgangsfrage zuwenden: Kann ein Selfie als Porträt oder als Selbstporträt definiert werden?

Diese Frage gewinnt damit ziemlich an Komplexität. Machen wir ein Selfie, bei dem wir lediglich unser Gesicht aufnehmen, könnten wir dieses Bild sicherlich als Porträt bezeichnen (so, als wäre es von einer anderen Person aufgenommen worden). Daneben gibt es aber auch ein anderes, ambivalentes und neues Konzept: Können wir es auch als Selbstporträt bezeichnen?

Hier liegt eine Täuschung vor, eine kleine Bagatelle im Hinblick auf die ikonographische Prätentiösität.

Zur Kenntnisnahme. Ein Maler muss sich, wenn er ein Selbstporträt malt, unweigerlich im Spiegel betrachten. Auf den ersten Blick scheint es vom Ergebnis her keinen Unterschied zu geben. Ich sehe mir das Porträt einer anderen Person oder ein Selbstporträt an, und sage: 'dass der Maler sein Bestes gegeben hat, an Virtuosität, Schönheit, Begabung. Aber vor allem hat er keine Verfälschung der Wirklichkeit vorgenommen'. Das heißt, der Albrecht Dürer der Renaissance liefert uns ein getreues Abbild seiner selbst in seinem Selbstbildnis, - anders als das Übel verzerrte Auge der Handykamera!

Im Jahr 1887, d.h. vor etwas mehr als einem Jahrhundert, veröffentlichte Eadweard James Muggeridge, besser bekannt unter dem Pseudonym Muybridge, sein Meisterwerk Animal Locomotion, eine wunderbare Sammlung von 781 fotochronografischen Tafeln, oder "Filmkunst auf Tafeln", die aus mehr als 100.000 Schnappschüssen bestanden. Damit galt er, wie jeder weiß, als der größte knipser aller Zeiten. Die bekannteste Serie dieser Tafeln stellt ein Pferd im Trab dar, die weniger bekannte eine Frau, die einem Buben den Hintern versohlt, beide nackt. Muybridge begann, die Realität und das Irreale über das anfangs komponierte Bild zu ergründen. Der Maler ist weitaus besser - werden Sie sagen - er malt das wirkliche Leben, anders als verzerrende Kameras!

Oh nein, auch hier liegt eine Täuschung vor.

Die Verwendung des Spiegels sorgt in der Tat für eine horizontale Umkehrung der Zeichnung des Antlitzes, d.h. ein nicht perfekt symmetrisch geformtes Gesicht, wie wir sehr gut wissen: Hier gibt es beispielsweise eine leicht nach einer Seite geneigte Nase, dort eine Falte auf einer Seite, einen Silberblick und viele andere Unterschiede zwischen rechter und linker Gesichtshälfte. Hinzu kommt, dass der Maler nicht die Möglichkeit hat, die Details ein weiteres Mal umzukehren.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Selbstporträt eines Künstlers nicht so präzise ausfällt, wie das verzerrte Selfie der Kamera.

Muybridges Analyse beruht u.a. genau darauf: Die Realität kann nur durch ein chronofotografisches Abbild erschlossen werden. Man geht davon aus, dass das optische Bild nur dann behandelt werden kann, wenn es mit einer Serie von Aufnahmen dargestellt wird. Auf diese Weise liefert es ein anschaulicheres Narrativ, da in einem linearen Ablauf gleichzeitig und, wenn auch nach unterschiedlichen Kriterien, die gleiche Verbindung stattfindet.

Also, so werdet Ihr einwenden, da haben wir es, keine verzerrte Fotografie oder verzerrt gefilmt, wir haben es, das Narrativ der chronologischen Bilder ist die einzige Lesart für Informationen, die weder mutieren noch sich verändern, hier haben wir die Gewissheit, ohne Dechiffrierung!

Und doch, auch hier liegt ein Fehler.

Das Erstellen einer Chronohistorie oder eines Narrativs durch Bilder beinhaltet unweigerlich eine Auswahl unsererseits von mehreren Standpunkten, die von verschiedenen Zeitpunkten und unterschiedlichen Positionen ausgehen. Daher haben wir Bilder, die nicht zeitgleich (untereinander) und nicht aktuell (nach außen) sind. Daraus folgt, dass wir, selbst wenn wir moderne und supertechnologische Geräte verwenden, erneut die Realität verzerrt abbilden. Und uns wurde klar, dass sowohl in der Malerei als auch in der Fotografie auch das unbewegte Motiv eine große historische Verzerrung darstellt. Kurzum, von Dürer bis Muybridge, sucht selbst Leonardo einen "vermeintlichen" technischen Kompromiss, die unpersönliche Lesart, kurz immutatis.

Also die Tafel, das Bild der Datei, die Kamera, das Narrativ, alles ein Betrug, eine unglaubliche Lüge! Eine Täuschung auch der Moderne! -So werdet Ihr ausrufen.

Hier ist die Antwort, ganz vertraulich.
.rethcarteb med tgeilbo gnudlib eid

Was Sie hier gelesen haben, ist zu 89 % wahrscheinlich. Als sicher kann es nicht gelten. Die höchste Gewissheit, die es geben kann, stammt vom Autor, der es geschrieben hat.