Auffällige Gemeinsamkeit der verschiedenen, sehr unterschiedlichen klassischen Motive, die Jörn Grothkopp in seinen Gemälden auf eine ganz individuelle Art neu interpretiert, ist die Reduktion der Bildelemente auf ihre Grundstrukturen, welche eine radikale Vereinfachung des Bildes bewirkt. Dazu kommt das Merkmal der Unschärfe, wie auch die Tatsache, dass Grothkopp in vielen Bildern Formen und Farben bis fast an ihre Wahrnehmungsgrenze führt. Die Motive erscheinen wie durch einen Nebel gesehen, stets knapp außer Reichweite des sprachlich und visuell Fassbaren schwebend, gleichsam als hätte sich ein Schleier zwischen gesehenem Objekt und sehendem Subjekt gelegt. Dabei bleibt unklar, ob sich die Gestalten und Motive im Nebel auflösen oder ob sie aus diesem Nebel auftauchen. Handelt es sich bei den verschiedenen Variationen der Mona Lisa um nachempfundene mögliche Vorstufen des fertigen Gemäldes oder um nachträgliche Dekonstruktionen dieses so ikonografischen Bildes? Die Frage ist unlösbar, bzw. es ist beides gleichzeitig, ein oszillierendes Verharren einem Zwischenstadium zwischen sensorischer Wahrnehmung und mentalem Sehen, Abstraktion und Gegenständlichkeit – teilweise wirkt es so, als würden Rothkos vibrierende abstrakte Farbflächen fast, aber nicht ganz, in die Gegenständlichkeit zurückgeholt.

Es ist natürlich bezeichnend, dass Grothkopps Ausstellung "wir sehen" betitelt ist. Velten Wagner schreibt in seinem Katalogtext zur gleichnamigen Ausstellung im Städtischen Museum Engen: "Durch die musterartige Kennzeichnung der Motive und das Verschwimmen der Formen bis hin zu ihrem Verschwinden im Weißraum des Bildes erzeugt der Künstler mentale Bilder. Diese Bilder werden nicht von der Realität des Seheindrucks abgezogen, sondern thematisieren die Wahrnehmung des Betrachters. Ausgangspunkt ist demnach nicht das Was sondern das Wie, im Fokus steht nicht der Gegenstand, sondern seine Wahrnehmung. Die Wahrnehmung, so die Konsequenz, wird zum eigentlichen Bild-Gegenstand." Es ist genau dieser Schleier aus Unschärfe und reduzierten Formen und Farben, der die Wahrnehmung zum Bildgegenstand von Grothkopps Gemälden macht: er verdeutlicht, dass Wahrnehmung ein nie abgeschlossener Prozess zwischen reinem Sinnesreiz und seiner mentalen Verarbeitung ist.

Es ist so, als würde Grothkopp das Sein der Dinge (in der Sprache von Heidegger) im Akte des gerade erst geschehenden, stets sowohl vollkommenen als auch unvollkommenen "Anwesens" ("das Ding west an") einfangen, seinem unaufhörlichen , in jedem Moment stattfindenden Kreislauf von Erscheinen und Verschwinden. Die Ambivalenz zwischen Erscheinen und Auflösen suggeriert gleichzeitig die Wechselseitigkeit des Prozesses: nicht nur erscheinen die Dinge im Bewusstsein, welches einen visuellen Reiz empfängt, gleichzeitig werden sie auch vom nach außen projizierenden Bewusstsein geschaffen, so wie Sprache die Wirklichkeit gleichzeitig abbildet und formt und der Gedanke und seine sprachliche Formulierung unlösbar miteinander verbinden sind. Der Titel "wir sehen" verweist mit seinem "wir" weiterhin auf die Spannung zwischen kollektiver, kulturell geprägter Wahrnehmung/Gestaltung der Welt (z. B. durch Sprache und visuelle Konventionen so wie Kunstgeschichte: siehe Mona Lisa) und individueller Perspektive, die nie völlig identisch sein kann mit der unseres Nebenmannes. Die nicht predeterminierte, schärfelose Offenheit der Bilder gewährt beidem weiten Spielraum. Damit bringt Grothkopp in seinen Bildern die komplexe Erfahrung des Sehens in eine Beziehungsstruktur, deren scheinbare Einfachheit sich beim Sehen wieder in eine komplexe Seherfahrung zurückverwandelt.