Welche ist die größte Kunstnation Europas? Deutschland wirft Dürer, Klee und Kirchner ins Rennen. Das reicht nicht. England mit Blake, Turner und Burne-Jones ist man vielleicht noch leidlich ebenbürtig. Die Niederländer hingegen haben Bosch, die Brueg(h)els, Rubens, Rembrandt, van Gogh und Mondrian zu bieten! In letzter Instanz kann die Wahl jedoch nur zwischen Italien und Frankreich fallen. Botticelli, da Vinci, Raffael, Michelangelo, Tizian und Caravaggio gegen Poussin, Watteau, Delacroix, Gauguin, Cézanne und Monet. Mehr noch als die schieren Namen ist es die Tatsache, dass diese beiden nationalen Schulen der Malerei für ganze Kunstepochen von so herausragender Bedeutung waren, die sie über alle anderen erhebt. Wirft man einen Blick auf die Lebensdaten, lässt sich leicht feststellen: Frankreich trat nach der Renaissance die Nachfolge Italiens als führende Kunstnation an. Grund genug, einige Schlüsselwerke der französischen Malerei eingehender zu betrachten.

Jean Fouquet (um 1420-1478/1481) gehört nicht zu den bekanntesten Namen in der französischen Kunstgeschichte. Als früher Renaissance-Maler stand und steht er im Schatten der oben genannten italienischen Meister. Im spätgotischen weichen Stil ausgebildet, wagte er sich an die für die künstlerische Strömung charakteristischen Madonnendarstellungen – und schuf ein Meisterwerk. Das „Diptychon von Melun“ (1456) ist ein zweiteiliges Tafelbild, dessen linker Flügel, der den Auftraggeber Étienne Chevalier sowie den heiligen Stephanus zeigt, sich heute in Berlin befindet. Unglücklicherweise für uns Deutsche ist es jedoch der in Antwerpen konservierte rechte Flügel[1], der ungleich beeindruckender daherkommt.

Dort thront die Jungfrau Maria mit dem Jesuskind. Das Gemälde ist seiner Entstehungszeit weit voraus, wirkt in seiner grellen Farb- und geometrischen Formgebung erstaunlich modern. Die drei blauen Engel symbolisieren Luft und Reinheit, die sechs roten Feuer und Liebe. Die bleichen Gestalten Marias und Jesus‘ kontrastieren auf das Schärfste mit dem Hintergrund, vor den sie gestellt sind. Das Tafelbild gewinnt so einen unmittelbar visionären Charakter.

Das Werk ist strikt geometrisch konzipiert, wobei die Jungfrau und das Jesuskind das zentrale Dreieck bilden. In frontaler Perspektive präsentiert, verströmt es, trotz seiner teils durchaus weichen Linienführung, eine kühle Erotik, die noch frappierender wird, wenn man weiß, wem diese Darstellung nachempfunden ist: Agnès Sorel, ihrerseits Mätresse des Königs Karls VII. Das Antwerpener Koninklijk Museum voor Schone Kunsten erklärt es zu Recht zum Kronjuwel seiner Sammlung.

Théodore Géricault (1791-1824) gelangte zu weitaus mehr Bekanntheit als Jean Fouquet. Er neigte, ganz Romantiker, den extremen Gefühlsregungen zu. Und so schuf er eines der herausragenden Kunstwerke der französischen Kunstgeschichte: „Das Floß der Medusa“ (1819)[2]. In diesem seinem Meisterwerk verewigte er den romantischen Weltschmerz auf drastischste und greifbarste Weise. Ausgestellt im Pariser Salon, wurde es schnell zur Sensation. Die Anhänger des Klassizismus wandten sich angewidert ab, verriet dieses Gemälde doch all die Ideale, die ihnen heilig waren. Es basierte zu allem Überfluss auch noch auf einer realen Tragödie.

Die „Medusa“ war eine Fregatte der königlichen Flotte, die mit dem unritterlichen Ziel gen Senegal aufgebrochen war, diesen – man hatte sich lange mit England um ihn gestritten – wieder in französischen Besitz zu nehmen. Der befehlshabende Offizier jedoch war seit Jahrzehnten nicht mehr zur See gefahren, die „Medusa“ strandete im Nirgendwo und bewegte sich nicht mehr vom Fleck. Ein Großteil der Besatzung, 150 Mann, wurde zurückgelassen und trieb alsbald auf einem notdürftig zusammengebauten Floß durch den Atlantischen Ozean. Die Tragödie nahm ihren Lauf: Hungrig und dem Wahnsinn nahe zerfleischten sich die Männer gegenseitig. Letztlich überlebten nur zehn von ihnen.

Géricault war fasziniert von diesem Sujet und machte sich wie ein Besessener ans Werk. Er befragte Überlebende, arbeitete mit einem Modell des Floßes und Wachsfiguren, begab sich ins Krankenhaus, um schmerzverzerrte Gesichter, verstümmelte Körper und Kadaver zu studieren. Schließlich schuf er ein riesenhaftes Gemälde von 5 x 7 Metern, dessen Hell-Dunkel die in verschiedensten Gefühlsregungen – Apathie, Verzweiflung, Hoffnung, schieres Grauen – verzerrten Gesichter eindrucksvoll in Szene setzt. In der Ferne, kaum mehr als ein Punkt, zeichnet sich Rettung ab: ein Schiff, das sich schließlich, langsam, aber unaufhaltsam, wieder entfernen und die Männer zurücklassen wird.

Das Gemälde zeigt die Gesellschaft, was durchaus im doppelten Wortsinne zu verstehen ist, in ihrem verhängnisvollsten Moment, dem der falschen Hoffnung. Es vollführt eine pyramidale Bewegung hin zu dem Schiff zur Rechten, mit der dunkelhäutigen Figur an ihrer Spitze, die an die unglückselige Mission gemahnt, die so viele in den Tod führte. „Das Floß der Medusa“ ist daher auch als politische Stellungnahme zu verstehen: als (vergeblicher?) Ruf nach Befreiung aus dem Joch des reaktionären und imperialistischen französischen Royalismus.

Gustave Moreau (1826-1898) war Vertreter des Symbolismus. Wie seinen künstlerischen Weggefährten war auch ihm ein gewisser Mystizismus eigen. Hinzu kam eine besondere Kompositionsgabe und eine meisterhafte Verwendung des Hell-Dunkels. In „Orpheus“ (1865)[3] finden wir all dies wieder.

Nach dem gescheitertem Versuch, seine geliebte Eurydike mit Hilfe seines betörenden Leierspiels aus der Unterwelt ins Leben zurückzuführen – er hatte, entgegen der Abmachung, zurückgeblickt –, wurde Orpheus der Sage nach von den Mänaden zerrissen, deren Lockrufen er zu ihrem Ärger nicht gefolgt war.

In Moreaus Gemälde nun sind Kopf und Leier des Toten in die Hände einer Mädchenfigur gefallen. Seine geschlossenen Augen finden sich spiegelbildlich in ihrem Gesicht wieder und tatsächlich scheint er in ihr post mortem eine Schwester im Geiste, eine poetische Seele gefunden zu haben. Die Melancholie, die der Szene an sich innewohnt, wird durch das besondere, golden eingefärbte Licht, in das sie gehüllt ist, ins Irreale, beinahe Ätherische gewendet.

Während einer der Hirten in der oberen Bildecke durch sein Flötenspiel die Musik, allgemeiner die schönen Künste als beherrschendes Thema betont, symbolisieren die leicht zu übersehenden Schildkröten am unteren Bildrand das Liebespaar Orpheus und Eurydike, das – in entgegengesetzte Richtungen laufend – für immer getrennt sein wird. Zugleich stehen jedoch auch sie für die alle Zeiten überdauernde Musik, schuf Hermes doch dereinst die Leier des Orpheus aus dem Panzer einer Schildkröte, Symbol der Langlebigkeit. Der Zitronenbaum zur Linken unterstreicht diese Interpretation, stehen seine Früchte, die goldenen Äpfel der Hesperiden, in der griechischen Mythologie doch für ewige Jugend.

Der Mythos und die Kunst, so lehrt uns das Gemälde, leben fort im Geist des jungen Mädchens. Sie überdauern den Tod und die Jahrhunderte. 500 Jahre, in denen Frankreich wie keine zweite Nation die europäische Kunstgeschichte prägte, bezeugen es: Große Kunst kennt kein Ablaufdatum.

Autor: Arik Jahn

Links:
[1] Antwerpen konservierte rechte Flügel
[2] „Das Floß der Medusa“ (1819)
[3] In „Orpheus“ (1865)

Quellen:
Französische Malerei, New York u.a.: Parkstone International 2016 (noch nicht veröffentlicht).
expositions.bnf.fr
www.histoire-image.org
modernisationmytheorphee.wordpress.com