Wer Jugendstil sagt, denkt Mucha. Das mag nicht für alle unter uns zutreffen, sehr wohl aber für die überwältigende Mehrheit. Der „Style Mucha“ ist der Inbegriff des Art Nouveau. Selten gab es eine massentauglichere Kunst, selten auch – Mucha hätte das nicht gerne gehört – einen massentauglicheren Künstler. Denn wie viele Menschen haben, die Rede ist natürlich von Reproduktionen, Rembrandt, Monet oder selbst Picasso im Flur hängen? Die Zahl geht gegen Null. Wie viele hingegen haben Mucha im Flur hängen? So einige! Daher hätte der Begriff Jugendstil wohl kaum glücklicher gewählt sein können: In der Tat bleibt er wie kaum eine andere Kunstströmung ewig jung. Nachdem die Avantgarden ihm einige Zeit den Rang abgelaufen, ihn doch einmal hatten alt aussehen lassen, erlebte er in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts eine effektvolle Rückkehr ins Bewusstsein der Menschen und erfreut sich seither, siehe oben, ungebrochener Beliebtheit.
Der Art Nouveau also, dessen Wiege in England liegt, dessen Vater jedoch auf den Namen Victor Horta (1861-1947) hörte und belgischer Architekt war, ist allgegenwärtig. Es ist müßig, auf die Schilder der Pariser Metro oder Gaudís Bauwerke in Barcelona zu verweisen. Wer nur einen Funken von Interesse für Kunst aufbringt, erkennt den Jugendstil spielend, einfacher vielleicht als jeden anderen, weil seine unverhohlene Stilisiertheit, seine durch die Natur inspirierten und von ihr umspielten geschwungenen Muster, seine Freude an der Verzierung unmittelbar ins Auge springen. Er ist im besten Sinne des Wortes charaktervoll.
Für Mucha selbst jedoch war er mitnichten ein Jugendstil. Erst 1887, also bereits als Spätzwanziger, führte ihn sein Weg nach Paris, mit dem er bis heute – zu seinem eigenen Bedauern – viel mehr verbunden wird als mit seiner geliebten Heimat, der früheren Tschechoslowakei und dem heutigen Tschechien.
1860 im mährischen Ivančice geboren, wird er mit zehn Jahren Chorknabe, was seine Eintrittskarte ins Gymnasium Slovanské ist. Seine schulischen Leistungen können leider nicht mit seinen musischen mithalten und so wird er der Schule verwiesen. Die Kunstakademie Prag lehnt ihn ab, aus dem Staatsdienst als Schreiber wird er ebenfalls alsbald entlassen und so entschließt er sich, sein Glück im Ausland zu versuchen. Auch in Wien jedoch, wo er beim Ringtheater als Bühnenbildner arbeitet, ist ihm kein Glück beschieden. Das Theater brennt 1881 bis auf die Grundmauern nieder. Er kehrt daher in seine Heimat zurück und verdingt sich mit künstlerischen Gelegenheitsarbeiten, die ihm die Aufmerksamkeit seines künftigen Mäzens Khuen-Belasi einbringen, mit dessen Unterstützung er sich 1885 an der Münchener Akademie der Bildenden Künste einschreiben und 1887 schließlich und endlich in das pulsierende Herz der europäischen Kultur übersiedeln kann: Paris.
Er ist noch immer mehr Akademiker als künstlerischer Rebell, einzig der Symbolismus flüstert ihm bereits modernere Ideen ein, die Impressionisten und ihre Nachkömmlinge aber werden ihn nie sonderlich interessieren. Zu sagen, der „Style Mucha“ habe sich spät entwickelt, träfe die Sache nicht. Glaubt man seinem Sohn Jiří Mucha, so wurde sein „Stil […] plötzlich geboren, über Nacht, vollständig ausgebildet, ohne dass es vorher eine Entwicklung gegeben hätte.“1 Der Art Nouveau ist es, der die Grenzen seiner technisch zwar untadelig ausgeführten, aber zumeist biederen Kunst sprengt. Die Launen des Schicksals sind es jedoch, die den „Style Mucha“ gebären.
Er ist vierunddreißig, als ein Geschenk des Himmels sein erwachtes Genie Sarah Bernhardt zuführt, ihn, glaubt man den Legenden, quasi in sein Glück hineinstolpern lässt. Er gestaltet ein Plakat für diesen vielleicht ersten echten Weltstar und Welt und Star lieben es. Es ist wichtig, zu betonen, dass es ein Plakat war – Werbung also, die die Blicke einfangen sollte –, das Mucha zum unsterblichen Künstler machte. Denn wenn er sich das Kompliment – oder den Vorwurf? – der Massentauglichkeit verdiente, dann wegen dem plakativen Element in seiner Kunst.
Man muss kein Kunstexperte sein, nicht einmal ein Kunstliebhaber, um an seinen Werken Gefallen zu finden oder sie sich eben in seinen Flur zu hängen. Während die Avantgarden nach immer neuen Ausdrucksformen einer tieferen Realität suchten, packte Mucha das Publikum bei dessen greifbarer Realität, seinen alltäglichen Neigungen, Wünschen und Lastern. Er bewarb Schokolade, Alkohol oder Zigaretten, stets mit – meist auf die eine oder andere Art lasziven, femme fatale-artigen – Frauenfiguren. Das Moment des werbenden Einfangens wird an nichts deutlicher als am wahrhaft um sich greifenden Haar dieser seiner Traumgeschöpfe.
Der Begriff Blickfang ist dabei wörtlich zu nehmen. Die Blicke werden durch seine Bilder nicht bloß eingefangen, seine Fantasiemodelle fangen auch mit ihren Blicken ein. Selten fühlt man sich als Betrachter eines Kunstwerkes so angeblickt wie von Muchas Werbefiguren und Allegorien. Und wenn sie uns auch nicht direkt in die Augen sehen, so ist ihnen doch immer ein eindringlicher Ausdruck beigegeben. Wir erkennen unmittelbar Wohlgefühl, Besinnlichkeit, Sehnsucht, Betörung, Entschlossenheit, Gleichmut, Herausforderung, Besorgtheit, Angst. Nichts gegen Kandinsky’sche Quadrate, ganz und gar nicht, aber Mucha macht uns den Zugang unbestreitbar leichter. Er verlangt vom Betrachter nichts als dessen Hingabe an das, was er vor sich sieht. Seine Kunst ist Verführung. Und verführt werden, ja, verführt werden wollen so einige unter uns.
Autor: Arik Jahn
Fußnoten
1 Zitiert nach: Bade, Patrick / Charles Victoria: Alfons Mucha, New York: Parkstone Press International 2013, S. 98.
Quellen:
www.muchafoundation.org
www.mucha.cz
Bade, Patrick / Charles, Victoria: Alfons Mucha, New York: Parkstone Press International 1913.
Mucha, Jiří: Alphonse Mucha. The Master of Art Nouveau, Feltham: The Hamlyn Publishing Group Ltd. 1966.