„Wollte man den gegenwärtigen Stand der Dinge benennen, so würde ich sagen, wir befinden uns nach der Orgie.“ 1 Als der französische Medientheoretiker Jean Baudrillard dies 1990 schrieb, könnte er keine Ahnung gehabt haben: Begann die Orgie nicht erst? Stellte nicht Tim Berners-Lee gerade die früheste Version eines Programms fertig, das er WorldWideWeb nannte? Und war 1990 nicht auch das Jahr, in dem „Archie“ geschrieben wurde, ein Tool zur Indizierung von FTP-Archiven – jenes „Archie“ also, das folgerichtig als die erste Internet-Suchmaschine gilt?
Für die Arbeiten von Martin Groß, Jahrgang 1984, vor allem für diejenigen in seiner Ausstellung „Morning After the Night Before“, sind diese Zusammenhänge nicht ganz unwichtig. Als Teil einer Generation, deren Kindheit noch weitgehend ohne digitale, zumal vernetzte Medien auskam, kommt einem Künstler wie Groß eine Scharnierrolle im Produzieren, Perpetuieren und Interpretieren visueller digitaler Codes zu, nicht zuletzt in Bezug auf bildbasierte Internet-Memes. Und man kann dankbar sein, dass er diese Rolle in- und auswendig kennt: Wenn er, wie in seinem Bild Spirals spiralling into spirals, 2 eine Umrisszeichnung des Gemäldes La danse von Henri Matisse integriert, wird offensichtlich, dass er die meme-typische brüchige Balance zwischen noch Gewusstem und kaum Bewusstem schlafwandlerisch hält. Zumal Groß dem Vortexwirrwarr, in dem er die Matisseschen Tanzenden taumeln lässt, wie als verirrte Gifs weitere Motive hinzuwachsen lässt: Da ist etwa ein skizziertes Spinnennetz, die mutmaßliche Kinderbuchzeichnung einer die Uhrzeit zeigenden Geste oder die Grafik einer wurmlochähnlichen Spiegelapplikation – alles Originale kaum rückverfolgbaren Ursprungs, hier sich verselbständigende Hyper-Memes.
Groß’ eigenes „Nach der Orgie“ – der Morning after the night before – beschreibt typischerweise den Morgen nach einer ausschweifenden Nacht, der oft mit einem Kater einhergeht. Auch ein Moment der Stille oder Reflexion nach einer Phase intensiver Aktivität kann gemeint sein – etwa nach nächtlichem Doomscrolling oder nach dem Prozess, wenn du „nach einem Kochrezept suchst und dann doch Turnschuhe kaufst“ (Groß) – also dem eigentlichen Doomscrolling. Dann, wenn „Orientierungslosigkeit“ auf „Signalhaftigkeit“ folgt, um zwei vom Künstler gerne verwendete Begriffe heranzuziehen.
Das Besondere an seinen Arbeiten: Groß geht einen Umweg über das Handwerkliche. Seine im 5:6-Format von 160 x 196 cm verfassten Bilder nennt er bewusst „Zeichnungen“ (nicht „Gemälde“), denn sie sind alle mit Oil Sticks produziert, zumal auf Papier – in der Welt medialer Reproduktionen quasi das analoge Gegenteil von Leinwand einerseits, Bildschirm andererseits. Wie leicht wäre es Groß, im Netz Gefundenes auszudrucken und auf Papierflächen zu applizieren (oder gar alles digital zusammenzupasten) – am Frappierendsten trifft dies vielleicht auf die Sonnenbrillensonnen im Bild „Heartbreak Anniversary“ zu. Als Vertreter eines Jahrgangs, der die Kunsthochschulen genau in dem Moment betrat, als der Begriff Post internet in die Welt entwich, weiß Groß natürlich um die Feinheiten der (Rück-)Übertragungen vom Digitalen ins Analoge, weiß, was es bedeutet, sich dem Konzept der „Post-Meme Art“ zu stellen, weiß, was es mit dem bekannten Diktum auf sich hat, nach dem „das schlechte Bild (…) ein illegaler Bastard der fünften Generation eines Originalbildes“ ist 3 („schlecht“ nicht im wertenden Sinne). Das lodernde Caspar-David-Friedrich-Motiv durch den verpixelnden Sigmar-Polke-Filter in Groß’ Bild Night is day. Up is down haben Sie an dieser Stelle natürlich schon längst erkannt – ebenso wie die entkernte Roy-Lichtenstein-Referenz im Gewand einer Archie-Comics-Sprechblase (Untitled).
Dass Groß zunächst Grafikdesign studierte, ist an dieser Stelle offensichtlich, es zeigt sich in den häufigen Text-Bild-Kombinationen ebenso wie in der Entscheidung, der Ausstellung eine eigene Corporate Identity zu geben: die Tuning-Flammen, ein Effekt optischen Pimpens aus der Welt jaulender Reifen, hier wie ein apokalyptischer Feuerwagen gen Himmel entrückt. Die Road to nowhere beginnt in der Ausstellung allerdings schon auf einem wie beiläufig abgestellten E-Scooter. 1985 veröffentlicht, jedoch bereits 1984 – in Groß’ Geburtsjahr – von den Talking Heads geschrieben, kann der Hit zu einer generischen Karaokeversion laut mitgesungen werden. Die Road to nowhere ist zwar eine Road of no return, sie ist aber auch eine Road to no regret.
(Text von Martin Conrads, 2025)
Notizen
1 Jean Baudrillard: Die Transparenz des Bösen. Berlin: Merve 1992, S. 9.
2 Ein Bild, das auch eine zeitgenössische Wiederaufnahme so mancher Motive des englischen Pop-Art-Malers Peter Phillips, ca. 1965, sein könnte.
3 The poor image is an illicit fifth-generation bastard of an original image. Hito Steyerl: In defense of the poor image, e-flux Journal #10, 1. November 2009.