Leon Kahanes Ausstellung Dialog dialog dialog zeigt in vier Arbeiten wie sich sowohl künstlerisch als auch politisch auf Erinnerung, Verantwortung und Schuld bezogen wird. In allen Fällen bildet der Bezug und die Interpretation der Geschichte einen Referenz- und Legitimationsrahmen für aktuelle politische und künstlerische Ausdrucksformen.
„Sich ein Bild zu machen … macht uns zu Menschen“, liest man im Eingangsbereich eines am 9. Februar 2024 in Auschwitz eröffneten Pavillons. An der Fassade steht in großen verrosteten Lettern „Gerhard Richter Birkenau“. Das Zitat ist von Gerhard Richter und lautete 1962 in voller Länge: „Sich ein Bild machen, eine Anschauung haben, macht uns zu Menschen – Kunst ist Sinngebung, Sinngestaltung, gleich Gottsuche und Religion.“ Im Pavillon werden die sogenannten Fotoversionen von Richters Serie Birkenau (2014). Die vier 260 x 200 cm großen Bilder sind im Gegensatz zu den Originalbildern aus jeweils vier Teilen zusammengesetzt. Die Arbeit bezieht sich auf die vier einzigen von Insassen aufgenommenen Bilder des Lagergeschehens. Um den Umgang mit diesen vier Fotografien hat sich eine Debatte zwischen George Didi-Hubermann und Claude Lanzmann entfacht, die sich in Teilen auch auf Überlegungen von Theodor W. Adorno und anderen beziehen.
Kahanes Arbeit 9. Februar 2024 - Auschwitz stellt das Richter Zitat ins Zentrum einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Pavillon. Das Zitat wird in dreifacher Ausführung (deutsch, englisch, polnisch) auf vier weißen Blättern gezeigt, die im Format und der Anordnung Gerhard Richters „Fotoversion“ seiner Birkenau Serie entsprechen. Neben dem Zitat und der Übernahme der Druckformate werden in der Ausstellung ein Foto des originalen Pavillonmodels und des symbolischen Schlüssels gezeigt. Der Schlüssel wurde als Hefezopf gebacken und symbolisiert die Eröffnung des Pavillons.
„Kaum ein anderer religiöser Grundsatz prägt das Judentum so tiefgreifend wie das Bilderverbot – sowohl in ästhetischer als auch in ethischer Hinsicht. Die mit den mosaischen Geboten eingeführte Ablehnung der Idolatrie bedeutete zugleich eine Hinwendung zur Abstraktion, einen „Triumph der Geistigkeit über die Sinnlichkeit“ (Freud), der die Bedeutung sinnlicher Erfahrung für den Glauben herabsetzte. Sie markiert bis heute eine zentrale Differenz zwischen der jüdischen und christlichen Theologie sowie religiösen Praxis.“
Dieser Absatz ist ein Ausschnitt eines Konzeptpapiers für einen Kunstwettbewerb des Kölner Doms. Anlass des Kunstwettbewerbs war eine künstlerische Auseinandersetzung mit den verschiedenen antisemitischen Darstellungen im Dom. Das Konzeptpapier Abstraktion und figuration - die dialektik von bilderverbot und antisemitischer darstellung wurde für die Ausstellung Dialog Dialog Dialog auf einen Lithografiestein übertragen. Kahane stellt seinen Entwurf, der sich auch auf Richters Domfenster den Konnex mit Richters Zitat und erweitert die Auseinandersetzung mit Fragen von Darstellbarkeit auf einen grundsätzlichen Konflikt zwischen christlicher und jüdischer Theologie, die sich besonders deutlich über das Verhältnis von Abstraktion und Figuration ausdrücken.
So heisst es weiter: „Der moderne Antisemitismus, der sich u.a. mit Denkern wie Adorno als pathische Projektion auf die Juden verstehen lässt, identifiziert diese mit Handel und Geld, mit der Abstraktion schlechthin. In wahnhafter Reaktion auf innere und äußere Entfremdungsprozesse dient moderner Antisemitismus vor allem der Entlastung aus individuellen und kollektiven Konflikten und Widersprüchen. Ebenso kann jedoch auch die antijüdische Motivik der Figuren am Kölner Dom als Ausdruck der Entlastungsfunktion antijüdischen Ressentiments verstanden werden, bei dem „die Juden“ als Erklärung für alles Übel in der Welt, herangezogen wurden.“
Die Arbeit 1. September 2024 - Zwickau ist eine Serie von Portraits, die als analoge Fotokontakte vom Handybildschirm auf C-Prints übertragen wurden. Durch die Reaktion des Papiers auf das Bildschirmlicht entsteht auf dem Fotopapier ein Farbenspektrum das den Farben der Deutschlandfahne entspricht. Die Portraits sind Ausschnitte aus einem Handyvideo das einen Demonstrationszug der rechtsextremen Partei Dritter Weg am 1. September 2024 - dem Tag der Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen - in Zwickau zeigt. Die Partei fordert einen deutschen Sozialismus und führt einen erklärten Kulturkampf für ein germanisches Brauchtum.
Der politische und kulturelle Kampf der neurechten Bewegungen findet auch über einen aktivistischen und politischen Angriff auf die Gedenkstätten statt. Vor allem in den neuen Bundesländern führt die Legitimierung rechter Politik über die Delegitimierung der Gedenkstättenarbeit. Für die Kulturkämpfer ist klar, dass ein politischer Wandel nicht ohne einen radikalen Bruch mit der Erinnerungskultur zu schaffen ist.
Der Film 24. März 2022 - Birkenau beschreibt die erinnerungspolitischen und -kulturellen Herausforderungen. Die konservatorischer Maßnahmen auf dem Gelände des Lagers Auschwitz Birkenau sind eine Analogie auf das Dilemma der Erinnerung, zum einen die Gräueltaten der Vergangenheit niemals vergessen zu dürfen, um sie für eine bessere Gegenwart und Zukunft anwendbar zu machen. Zum anderen, wie durch das sterben der Zeitzeugen, verdeutlicht sich hier auch eine Zäsur der Erinnerung und die Frage, wie man der Herausforderung in der Zukunft gerecht werden kann, die Geschichte des Holocaust und seine Bedeutung für die Gesamtgesellschaft zu vermitteln.
Unter dem Titel Dialog dialog dialog verbinden sich die vier Arbeiten zu einer kritischen Topografie über den Umgang mit Erinnerung und Aufarbeitung. Besonderes Augenmerk liegt dabei auf der Relevanz der Erinnerung für künstlerische Grundsatzfragen, aber auch auf einer Verschiebung vom politischen Streit in einen Kulturkampf, bei dem die Interpretation von Antisemitismus und der Holocaust, achtzig Jahre nach der Befreiung von Auschwitz, wieder zunehmend in Zentrum einer Systemfrage rückt.