Es gibt historische Momente, in denen eine Zivilisation nicht mehr benennen kann, was sie verloren hat. Wir leben in einem solchen Moment. Nicht die Vernunft ist kollabiert. Nicht die Technologie hat versagt. Auch die Moral ist nicht verschwunden. Was sich vielmehr aufgelöst hat, ist etwas Subtileres und zugleich Entscheidenderes: Unsere gemeinsame Fähigkeit, das Werden als eigenständigen Wert zu affirmieren.

In meiner Arbeit zur Sapiopoiesis – einem konzeptuellen Rahmen, der die strukturelle Ermöglichung von Subjektautonomie unter Bedingungen wachsender Komplexität beschreibt – wurde mir zuletzt auf einer Ausstellung im Arp Museum nahe Bonn eine zentrale Einsicht mit neuer Klarheit vor Augen geführt: Die Romantik, in ihrer Tiefe begriffen, war kein Rückzug in Gefühligkeit, sondern eine radikale Aktualisierung des Utopischen. Ihr stiller Motor: eine Form der Sehnsucht, die nie ganz aus der Welt verschwand. Eine Sehnsucht, die weder übersetzbar noch messbar, geschweige denn marktfähig ist. Eine Sehnsucht, die sich einer Welt widersetzt, in der nur noch das Gekonnte, das Verwertbare, das Abgeschlossene gilt.

Philosophie ist eigentlich Heimweh. Das Verlangen, überall zu Hause zu sein.

(Novalis)

In diesem Sinne ist Sehnsucht kein psychologisches Defizit, sondern ein zivilisatorisches Vermögen. Sie gleicht dem, was Ernst Bloch das Noch-Nicht-Bewusstenannte: eine vorgreifende Orientierungskraft, die sich dem normativen Zugriff entzieht. Michel Foucaults Konzept der Heterotopien ließe sich als räumlicher Ausdruck dieser zeitlichen Widerständigkeit deuten. Auch Hans Jonas’ Ethik der Verantwortung entspringt letztlich einer zutiefst sehnsuchtsgetragenen Sorge für das noch Nicht-Gewordene.

I. Zwischen Entmenschlichung und Auflösung des Ethischen

Jüngst kursierende Kampagnen bestimmter Tierschutzorganisationen – mag ihr Anliegen berechtigt sein – operieren mit Bildern, die den Menschen selbst entmenschlichen. In ihrer Übergriffigkeit wird nicht Empathie gestiftet, sondern ethische Urteilsfähigkeit ausgehöhlt. Dies ist keine Kritik am Tierschutz, sondern an der Aufhebung jener Differenzierungsleistung, die ethisches Denken überhaupt erst ermöglicht. Wird der Mensch zur reinen Schuldfigur degradiert, ohne zwischen Systemzwängen und individueller Autonomie zu unterscheiden, verkommt jede Form von Verantwortung zur Abstraktion.

Hannah Arendts Warnung vor der Auflösung von Handlung in Verhalten, von Verantwortung in statistische Schuld, klingt hier bedrückend aktuell. Ethische Klarheit beginnt dort, wo strukturelle Unterscheidungen geschützt und nicht eingeebnet werden.

II. Der Verlust von Orientierung als stille Katastrophe

Unsere Debatten über Künstliche Intelligenz, Klimakollaps und soziale Krisen sind oft von Dringlichkeit durchdrungen, aber innerlich strukturlos. Sie verfehlen die eigentliche Frage: Was muss – trotz aller Transformation – strukturell intakt bleiben, damit überhaupt noch etwas Bedeutung entfalten kann? Nicht das Wesen des Menschen ist die Antwort, sondern das Recht zu werden: Die Möglichkeit, sich als moralisch situiertes, eigenorientiertes Subjekt unter Unsicherheit zu entfalten.

Der Philosoph Bernard Stiegler sprach von symbolischem Elend als Folge digitaler Automatisierung von Erinnerung, Wahrnehmung und Begehren. Wo Wissen auf Funktion reduziert wird, zerfällt Orientierung zu Steuerung. Sapiopoiesis ist keine Theorie, sondern eine minimale Bedingung zivilisatorischer Viabilität. Wo dieses Werden durch Optimierung, Formatierung oder kognitive Simulation ersetzt wird, geraten selbst humanistische Anliegen in Gefahr, dysfunktional zu werden.

III. Sehnsucht als Widerstand gegen die Weltreduktion

Wahre Sehnsucht ist keine Sentimentalität. Sie ist ein kognitiver Widerstand gegen epistemische Schließung. Sie ist das, was nicht berechnet, nicht verwertet, nicht finalisiert werden kann – und dennoch existiert. Mehr noch: Sie ist die Spur einer offenen Welt.

Der Philosoph Byung-Chul Han verweist auf die Gefahren einer übertransparenten Gesellschaft, in der alles Sichtbare dem Eros – und damit dem Lebendigen – entzogen wird. Sehnsucht steht quer dazu: Sie hält Möglichkeit offen, wo Systeme nach Finalität verlangen. In Emmanuel Levinas' Ethik des Antlitzes lebt dieselbe Haltung: Das Andere darf nicht eingemeindet werden, sondern verlangt eine Antwort, die die eigene Kategorie übersteigt. Sehnsucht ist in diesem Sinne kein Gefühl, sondern eine epistemische Geste der Unabschließbarkeit. Sie ist das Überleben der Welt als Werden.

IV. Eine neue Ethik der Subjektautonomie

Die Zukunft verlangt keine moralische Perfektion, sondern strukturelle Intelligenz: die Fähigkeit, Bedingungen zu schützen, unter denen Subjekte sich entfalten können – ohne vereinnahmt oder reduziert zu werden.

Diese Ethik wurde von mir kybernetisch fundiert, inspiriert durch Heinz von Foersters ethischen Imperativ: Handle stets so, dass die Anzahl der Wahlmöglichkeiten wächst. Sie bildet das Rückgrat meines Konzepts Sapiopoiesis, wie ich es bereits in The Age of Sapiocracy systematisch entfaltet habe: als Ethik der strukturellen Ermöglichung, nicht der normativen Kontrolle.

Tiere zu achten heißt: den Menschen als moralisch fähiges Wesen zu schützen. Technologie zu meistern heißt: epistemisch souverän zu bleiben. Die Zukunft zu gestalten heißt: das Recht zu bewahren, nicht vorbestimmt zu sein. Was wir benötigen, ist eine Ethik, die sich nicht durch Empörung legitimiert, sondern durch Differenzschutz – eine Ethik der Selbstwerdung unter Unsicherheit. Eine Ethik, in der die Frage nicht lautet: Was sollen wir tun?, sondern: Was darf werden?

V. Zwischen Anspruch und Ermöglichung: Warum das Subjekt nicht reicht

Der Begriff Subjekt galt lange als Garant für Freiheit, Verantwortung und Moral. Doch was wir heute unter Subjekt verstehen, ist oft selbst Produkt jener strukturellen Schließung, gegen die wir uns zu wenden glauben. Ein Subjekt, das nicht über epistemische Selbstreferenz verfügt, sondern nur reagiert, adaptiert oder performt, ist kein Träger von Autonomie – sondern Funktionsträger eines Systems, das Subjektivität nur simuliert.

Wirkliche Subjekthaftigkeit beginnt dort, wo ein Mensch nicht nur seine Optionen kennt, sondern seine eigene Struktur der Wahrnehmung, Bewertung und Entscheidung unter Unsicherheit bewusst transformieren kann. Es geht nicht darum, „frei zu sein“, sondern fähig zur Orientierung, jenseits der gewohnten Kategorien von Sicherheit, Belohnung oder sozialer Akzeptanz.

Hier beginnt Sapiopoiesis:

als Raum, in dem nicht das Ich optimiert wird, sondern die Bedingungen des potenziellen Werdens geschützt, geordnet und kultiviert werden. Der entscheidende Unterschied zwischen einem System, das Handlung erlaubt, und einer Zivilisation, die Werden ermöglicht, liegt in der Tiefe des strukturellen Vertrauens: Vertrauen in das Noch-Nicht – und in die Fähigkeit, das Nicht-Finale nicht als Mangel, sondern als Würdeform zu erkennen.

In dieser Haltung liegt keine Romantisierung des Unfertigen, sondern der nüchterne Entschluss,das Recht zu werden nicht dem Steuerungsbedürfnis einer entzauberten Welt zu opfern.

Literaturhinweise

Ernst Bloch. „Das Prinzip Hoffnung“ (1959–1969). Zur utopischen Dimension des Noch-Nicht-Bewussten.
Hannah Arendt. „Vita activa oder Vom tätigen Leben“ (1958). Zur Handlung, Natalität und Gefahr systematisierter Schuld.
Simone Weil. „Schwerkraft und Gnade“ (1943). Über Aufmerksamkeit und epistemische Tiefe.
Emmanuel Levinas. „Totalität und Unendlichkeit“ (1961). Ethik als Unverfügbarkeit des Anderen.
Franz Rosenzweig. „Der Stern der Erlösung“ (1921). Zur dialogischen Offenbarung und Entsystematisierung von Wahrheit.
Bernard Stiegler. „Die Logik der Sorge“ (2016). Über symbolisches Elend und die Erosion von Erinnerung.
Byung-Chul Han. „Die Errettung des Schönen“ (2015), „Die transparente Gesellschaft“ (2012). Zur Erosion des Eros durch Totaltransparenz.
Gilbert Simondon. „Die Existenz technischer Objekte“ (1958). Zur Differenz von Individuation und System.
Michel Foucault. „Andere Räume. Heterotopien“ (1967). Raummetapher des epistemischen Widerstands.
Hans Jonas. „Das Prinzip Verantwortung“ (1979). Zur Ethik des Unbekannten.
Leon Tsvasman. „Infosomatische Wende“ (2021), „The Age of Sapiocracy“ (2023). Zur epistemischen Architektur, Orientierungsfähigkeit und post-symbolischer Zivilisation.