In schwierigen Zeiten, wenn wir uns überfordert fühlen, greifen wir unbewusst nach etwas, das Trauer, Wut oder Freude ausgleicht. Für Sportliebhaber ist das Laufen die Lösung, für Kinobesucher ein Film, für Musikliebhaber das Musikhören und für die Freunde der Literatur das Lesen eines Buches. Ein Buch noch einmal zu lesen, scheint grundsätzlich eine gute Idee zu sein, um sich noch einmal mit einer Geschichte auseinandersetzen zu können. Viele Leser kehren zu Büchern zurück, die sie schon einmal gelesen haben, aber warum, wenn es so viele andere gibt? Haben diese Geschichten, die man schon mehrmals gelesen hat, etwas Magisches an sich, das man dringend braucht? Das Wiedererleben dieser Gefühle führt den Leser in eine andere Dimension, in ein Feld, in dem die Ereignisse aus der Sicht des Lesers ein absolutes Szenario der Vollendung darstellen und es ihm ermöglichen, die Figuren durch die Magie des Lesens wiederzubeleben. Auf diese Weise nimmt der Leser die vom Romancier erdachten Lebensereignisse der Figuren wahr und genießt das Abenteuer, als ob er es zum ersten Mal erleben würde.

Andererseits ist sich der Romancier, wenn er Blut und Worte zu Papier bringt, bewusst, dass seine Geschöpfe, die Träger von Gefühlen sind, sehr unterschiedliche Wirkungen auf den Leser haben. Sie können unterschiedlich starke Emotionen beim Leser auslösen, der sich von der Kraft der Figuren beeindrucken lässt. Der Kunstschreiber kann seine literarischen Waffen einsetzen und weiß, welche Neigungen, Erfahrungen, Lebenseinstellungen und Umgangsformen einer Figur sich in die Prägnanz verwandeln, die sich dann als Code im Gedächtnis des Lesers verewigt. Erwähnenswert ist an dieser Stelle der Zusammenhang Schreiber-Leser, der eine große Rolle spielt. Dieser wächst, wenn der Leser Weisheit im Text findet, die durch das Verhalten und Gefühle der Figuren zum Ausdruck kommt. Denn zunächst wollte der Romancier nur Konflikte der Gesellschaft aufzeigen, deren Bedeutung für die Bürger relevant ist und deren Lösung, so ist der Schreiber selbst überzeugt, in seinen Thesen liegt.

Die Verbindung beginnt in der Überlegung des Autors, eine Geschichte zu schreiben, und in der Überlegung des Lesers, ein Buch wiederzulesen. In beiden Fällen brauchen Autor und Leser eine unermessliche Ruhe, der eine zum Schreiben, der andere zum Lesen. Der Romancier baut eine Figur aus Charakterfragmenten der Menschen, die ihn umgeben, und definiert damit eine neue Grenze, eine erweiterte Persönlichkeit, die weder besser noch schlechter ist als die realen Figuren seiner Beobachtungen. Im Schaffensprozess entstehen Texte, die oft nie im literarischen Endprodukt auftauchen, sie beschreiben die Figur aus einer anderen Perspektive, deren (meist biografische) Informationsebene gerade für die Geschichte ungünstig oder ungeeignet ist, aber für ihre Handlungen.

Der Zweck dieser Übung ist für den Autor nichts anderes als die Bestätigung, dass eine reale oder fiktive Person aus anderen Teilen zusammengesetzt ist, so dass sein künstliches Geschöpf (er oder sie) in einer „tatsächlichen“ literarischen Situation mit seiner eigenen Moralphilosophie interagiert und kämpft. Aber um auf die Ruhe zurückzukommen, die sowohl den Schriftsteller als auch den Leser betrifft, so ist sie nicht nur ein Instrument, um Literatur zu schaffen und Literatur zu genießen, sondern in beiden Fällen ein gemeinsamer Raum für beide: grenzenlos, dynamisch, geistig und konzeptuell. Doch wenn der Leser zu einem alten Buch greift und die Emotionen der Helden oder Schurken nachempfinden möchte, dann ist es besonders wichtig, dass er sich in die Figuren hineinversetzen kann.

Was das Wiederlesen eines Romans aber auch mit sich bringt, sind die Ereignisse der Erzählung. Sie sind für den Leser so eindrücklich gestaltet, dass es sich lohnt, den Text zu lesen. Viele Leser empfinden jedes Mal etwas anderes als beim ersten Mal. Sie entdecken auch neue Details, die ihnen vorher entgangen sind. Solche Leser sind vergleichbar mit Filmliebhabern, die sich einen Film mehr als zehnmal ansehen und jede Szene akribisch analysieren, weil sie die Filmsprache des Regisseurs vertiefen wollen. An dieser Stelle bin ich der Meinung, dass die Ausdrucksmittel eines Filmregisseurs, wie Beleuchtung, Kamerabewegungen, Perspektiven, Kadrierung und Ton, der Erzählstruktur und Statik eines Romans entsprechen. Doch die Adjektive an der richtigen Stelle, die Beschreibung einer Szene, die Darstellung einer Figur, die nachvollziehbare Korrelation zwischen komplizierten Satzstrukturen und langen Erzählformen sind in der Literatur die Instrumente eines unsichtbaren Orchesters, dessen stumme Musik die vier Wände des Lesers mit voller Kraft erfüllt.

In der Stille findet der Leser bereits die Schatten seiner eigenen Existenz, aber auch das künstliche Leben des literarischen Helden, dessen Geschichten auch in der Stille eines Zimmers mit Hilfe einer Tastatur geschrieben wurden. Die Literatur gibt dem Romancier die Möglichkeit, die Stimme eines Wesens - der Figuren - zum Ausdruck zu bringen, ihre Probleme zu einem bestimmten Zeitpunkt zu lösen, Trauer oder Freude in Worte umzuwandeln, den Leser mit den Konflikten einer Gesellschaft zu konfrontieren. So gelingt es ihm, dass seine Figuren nicht in Vergessenheit geraten, sondern immer lebendig bleiben. Durch sie kann man weinen, lachen und denken, was das Leserherz begehrt.