Das populäre Wiener Leopold Museum feiert in diesen Tagen sein 20-jähriges Jubiläum. Es kann auf eine herausragende Kunstsammlung zurückgreifen, die das Ehepaar Prof. Dr. Rudolf und Dr. Elisabeth Leopold über 5 Jahrzehnte angelegt hat. Im Kern besteht sie aus der weltgrößten Sammlung von Werken Egon Schieles und weiterer Protagonisten der Wiener Moderne. Das Leopold Museum macht diese phänomenale Epoche, deren exorbitante künstlerische, wissenschaftliche und geistige Schöpferkraft gerade für unsere aktuelle, tiefgreifende Umbruchsphase beispielgebend ist, eindrucksvoll erlebbar.

Dr. Mario Bogisch hatte die Gelegenheit zu einem sehr spannenden und ausführlichen Interview mit Direktor Hans-Peter Wipplinger in Wien:

Was braucht ein Kunstwerk grundsätzlich, um Sie als Mensch zu begeistern?

Das ist gar nicht so einfach zu beantworten. Da ich mich seit 30 Jahren mit Kunst auseinandersetze, ist es eher schwierig, so enthusiastisch in ein Werk zu fallen, ohne das permanente Archiv im Kopf abzurufen, ohne zu strukturieren oder einzuteilen. Dazu gehe ich wahrscheinlich zu analytisch an eine Bildbetrachtung heran. Allerdings begeistern mich oft Werke, die mir noch unbekannt und rätselhaft sind. Man weiß selbst nicht genau, wie und warum der Funke auf den Betrachter überspringt. Das ist das Schöne, das wunderbare Rätsel, dass einen etwas enthusiasmiert, ohne genau zu wissen warum.

Mich begeistert auch immer wieder ein Werk wie Schieles Sitzender Männerakt, der sogenannte Gelbe Akt, aus Gründen, wie die Komposition angelegt ist, wie er mit Diagonalen und Vertikalen, mit der Dynamik eines leuchtend strahlenden, energiegeladenen Körpers umgeht.

Begeisterung kann aus verschiedenen Gründen entstehen. Es ist erquicklich, wenn man alte Meister im Wiener Kunsthistorischen Museum sieht oder wichtige Werke von Schiele, Klimt und Kokoschka bei uns im Haus. Diese Werke betrachtet man auch immer wieder neu. Der Mensch entwickelt sich ja weiter. Das individuelle Gedächtnis formiert sich permanent neu und damit auch das kollektive. So wird der Bildungs- und Erfahrungshorizont immer neu kalibriert.

Verraten Sie uns in diesem Zusammenhang, welches Kunstwerk wir hier in Ihrem Arbeitszimmer bestaunen können und warum es hier hängt?

Es ist ein Kunstwerk von Martha Jungwirth. Ich habe vor acht Jahren die erste Retrospektive mit ihr gemacht. Ich mag das Werk, weil es eine unglaubliche Wildheit hat, eine Expression, die sich aus Intuition schöpft. Das Bild und das Werk von Martha Jungwirth überraschen mich immer wieder. Mich begeistert hier einerseits dieser Pinselduktus und wie kühn sie Passagen von Verdichtung und Leere kombiniert. Dieses Bild löst bei mir auf einer emotionalen Ebene etwas aus, es motiviert mich zum Anpacken, Tun und Gestalten. Es gibt mir einen gewissen Takt, einen Rhythmus und vermittelt eine progressive Atmosphäre.

„Wien 1900“ ist der Titel einer beeindruckenden Dauerpräsentation Ihres Hauses, die unter Ihrer kuratorischen Ägide entstand und bahnbrechende Kunstwerke zeigt. Welches waren die entscheidenden Bedingungen dafür, dass sich Wien in dieser Zeit als globale Kulturhauptstadt so herausragend etablieren konnte?

Ich glaube, dass in der Gesellschaft damals gerade der Aspekt der Reibung, der Gegensätze von sehr unterschiedlichen Haltungen, Philosophien, Politiken die Menschen in verschiedenen Bereichen gefordert hat, Stellung zu beziehen. Einerseits gab es die konservativen und monarchistischen Tendenzen. Wir hatten gleichzeitig ein aufkommendes Bürgertum, das schon 1848 niedergeschlagen wurde und sich nie wieder aufbäumte. Die intellektuellen Kreise, das Bildungsbürgertum und die offene liberale Aristokratie haben nicht nachgelassen und um Terrain gekämpft. Ein weiterer wichtiger Gegensatz war der zwischen einem unfassbaren Reichtum, einer Dekadenz und einer nie dagewesenen Armut in Wien. Reibungen gab es auch innerhalb der Künstlerschaft. Denken Sie an das Wiener Künstlerhaus, welches konservativ und akademisch ausgerichtet war. Das haben die Secessionisten um Klimt nicht ertragen. Sie haben sich selbständig gemacht und die Secession am Karlsplatz gegründet.

Wesentlich war auch die Offenheit der Secessionisten, ihre Einladungspolitik. Bei ihrer ersten und zweiten Ausstellung waren etwa viermal so viel internationale, als österreichische Künstler vertreten. Die Österreicher haben profitiert von den internationalen Tendenzen und die Künstler, die nach Wien kamen, von dieser Melange, diesem Fluidum einer Umbruchszeit.

Dieser Austausch und die Reibung haben vielleicht, gerade wenn man an den Jugendstil denkt, die Wiener Szene differenziert vom Pariser Jugendstil, von der Berliner oder auch der Münchner Secession. Im Melting Pot Wien köchelte es ordentlich.

Ebenfalls darf man die jüdischen Wurzeln und Traditionen nicht vergessen. In einem Raum der Ausstellung Wien 1900 habe ich beschrieben, wer aller Innovationskraft und Kreativität hereingebracht hat. Ob das Max Reinhardt war, Gustav Mahler, Sigmund Freud oder die Familie Wittgenstein, ohne diese starke Präsenz der jüdischen Kultur wäre das Wien um 1900 nie so fruchtbar geworden.

Was fasziniert Sie an der Zeit „Wien um 1900“ am meisten?

Mich begeistert sehr, wie ein neuer Gedanke in der Welt entsteht, wie sich Ideen Bahn brechen, es zu einem Umbruch kommt, wer daran beteiligt ist, welche Protagonisten und Sprachrohre es gibt. Es begeistert mich auch, wie innovationsorientiert dann Dinge umgesetzt werden. Da gehört ja nicht nur ein Konzept dazu, sondern auch Organisationstalent. Ich glaube, von dieser Verve können wir noch heute lernen.

Wir können aber auch lernen, wie Gedanken und Bewegungen untergehen, weil sie sich überlebt haben. Ich denke beim Jugendstil war es sicherlich so, dass die Zeit irgendwann abgelaufen war. Er wurde zunehmend weltfremd. Das was wir heute so lieben, das Ornament, die Ausschmückung, hatte sich überlebt. Natürlich waren dann die Expressionisten mit ihrem schonungslosen Röntgenblick, siehe Kokoschka, mit ihrem Blick tief in den Abgrund, in die Seele oder in dieses „Hineingeworfen sein in die Welt“ der logische Schritt und damit in gewisser Weise der Abgesang des Jugendstils. Es war eine andere Lebensrealität angesagt.

Gibt es einzelne Künstler bzw. Werke, die Ihnen in Ihrer Dauerpräsentation besonders am Herzen liegen?

Ja, da gibt es viele. Sie wechseln allerdings auch immer wieder. Was sicherlich Kontinuität hat unter meinen Lieblingsbildern ist Kokoschkas Selbstporträt von 1919, das er in Dresden gemacht hat, weil daraus seine ganze Verzweiflung spricht. Er war psychologisch wie körperlich kriegsgeschädigt, dazu noch der Schmerz wegen Alma (Anm. Mahler). Auch bei Richard Gerstl gibt es einige Werke, die ich mir immer wieder gerne anschaue. Da ist natürlich sein spätes Selbstporträt von 1908, wenige Wochen vor seinem Tod entstanden. Er geht mit einem unglaublichen emotionalen Pinselduktus und mit Fingermalerei in dieses Werk hinein. Seine ganze Traurigkeit, sein Abgesang von dieser Welt ist schon zu spüren mit dunkel umrandeten Augen, nackt sein Geschlecht zeigend. Seht her, hier bin ich, alles eine große Tristesse, da Mathilde (Anm. Schönberg) ihn verlassen hat. Es ist einerseits vom Malerischen her ein Sensationsbild und auf der anderen Seite eine bitter traurige Erzählung. Das könnte ich jetzt durchdeklinieren bis Max Oppenheimer und natürlich Schiele.

Die Wiener Secessionisten verfolgten einen gesellschaftsgestaltenden Anspruch mit Kunst. Wie schätzen Sie einen solchen Anspruch aus heutiger Sicht ein?

Es war ein Versuch, teilweise erfolgreich, teilweise sind sie aber auch kolossal gescheitert. Denken wir an die Klimt‘schen Fakultätsbilder und den zehnjährigen Streit, dass diese Werke an die Decke der Universitätsaula kommen. Irgendwann hat Klimt gesagt, ich nehme die Bilder wieder und zahle die 30.000 Kronen zurück, damit er in Ruhe arbeiten kann. Der gesellschaftsgestaltende Anspruch war da, aber wenn man sich anschaut, welch‘ bösartige Karikaturen damals in den Tagesjournalen über die Fakultätsbilder veröffentlicht wurden, dann sieht man, Klimt war kein etablierter Künstler in einer breiten Öffentlichkeit, sondern er war anerkannt und geliebt in einem gewissen Establishment der aufgeschlossenen Bourgeoisie und der liberalen Aristokratie. Und das war nur ein ganz geringer Teil der Bevölkerung. Die meisten waren zu diesem Zeitpunkt noch im 19. Jahrhundert stecken geblieben. Der Kaiser war in seinem Kunstverständnis rückwärtsgewandt und fand die damalige Gegenwartskunst der jungen Avantgardisten mit Verlaub einen ziemlichen Nonsens.

Ich glaube, heute hat sich das insofern etwas geändert, dass die Wiener Moderne in verschiedene Bereiche, in eine breite Öffentlichkeit eingedrungen ist, denken wir an Modeaspekte – oder Design. Sie werden immer noch als Inspirationsquelle, als Fundus verwendet. Mit anderen Worten, die Avantgarde wird nach wie vor gemolken.

Würden Sie für die Kunst im 21. Jahrhundert einen ähnlichen gesellschaftsgestaltenden Anspruch erheben? Welchen Stellenwert sollte Kunst im 21. Jahrhundert haben?

Ich würde so einen Anspruch einem Künstler persönlich niemals abverlangen. Der Vermittlungs- und damit gesellschaftsdesignierende Aspekt ist vielmehr unsere museale Aufgabe und so verstehe ich sie auch. Ich denke, dass die Auseinandersetzung mit Kunst auf der Ebene von Bildung und Reflexion für jedes einzelne Individuum eine unglaubliche Bereicherung für das Leben darstellt.

Kunst hilft in der Verortung des eigenen Individuums sehr, das ist das Potential und die Stärke von Kunst, ohne damit immer einen Anspruch zu erheben, die Gesellschaft zu verändern. Ich glaube grundsätzlich dennoch, dass Kunst das macht. Da bin ich ein unerschütterlicher Idealist, weil ich an die Energie und Kraft der Kunst glaube.

Gerade Künstler wie Egon Schiele verschaffen uns einen tiefen Einblick in das Seelenleben ihrer Modelle, in Themen, die unser Menschsein im tiefsten Innern berühren. Ist der damals revolutionäre Blick auf unser machtvolles Unbewusstes in der Psychologie und Kunst nicht auch ein hochaktueller Aspekt, um die Komplexität unseres Menschseins in einer Zeit zunehmender Digitalisierung und Technisierung nicht aus den Augen zu verlieren?

Man muss dazu sagen, wenn es um das Unbewusste geht, da waren Künstler wie Schiele, Gerstl und Kokoschka in eine Zeit hineingeboren, wo das plötzlich Einzug gehalten hat. Also weg von dieser singulären Identität. Wir haben – dank Freud – auch unterschiedliche individuelle Ausformungen erkannt. Und was hat Schiele anderes gemacht, als seinen Körper als Schlachtfeld von Gefühlen und Emotionen zu verwenden. Er hat seine Identität geradezu ausgebeutet. Es gibt rund 150 Selbstporträts, in denen er sich selbst dargestellt hat und sich vielleicht auch selbst kennen lernen wollte. Letztendlich war es eine Erkundung: Was ist der Mensch? Wer bin ich? Diese ewige Frage ist beim österreichischen Expressionismus ausgebrochen wie nie zuvor in dieser ungestümen Art und Weise. Die Suche nach der eigenen Identität lag in der Luft.

Vielleicht ist die „Selfie Kultur“ heute gar nicht so viel anders wie ein Selbstporträt von Schiele, nur in einem anderen Medium. Die Reproduzierbarkeit und Verwertung hat sich natürlich gesteigert. Dies aber eventuell deswegen, weil das „Ich“ zu erkennen in den schnellen digitalen Prozessen und Abläufen ebenso eine Form ist, sich selbst zu analysieren.

Welche weiteren Geschenke kann die Auseinandersetzung mit der Kunst im Wien um 1900 für unser heutiges Leben im 21. Jahrhundert hervorbringen?

Wenn wir ein neues Thema ausgraben, wie es jetzt zum Beispiel im November am Beispiel Ludwig Wittgensteins als Fotograf sein wird, ist es ein Geschenk, zu erfahren, wie sich Wittgenstein nebst seinen philosophischen Konzeptionen mit dem Medium der Fotografie auseinandergesetzt hat. Es wird ein Geschenk sein, dieses Neuland zu betreten, übrigens auch mit sehr vielen zeitgenössischen Künstlern, die methodisch ähnliche Ansätze verfolgen. Diese Künstler werden in einen Dialog treten mit Wittgenstein. Das ist eine meiner Intentionen, nicht zu verharren, sondern Wissenshorizonte zu ergründen. Die Vergangenheit muss immer aus der jeweiligen Gegenwart Betrachtung finden. Ich mache die Geschenke an Ausstellungen oder Präsentationen für die Öffentlichkeit fest, wo wir uns aus diesem Urquell der Moderne noch bedienen und berauschen können.

Verraten Sie uns, an welchen aktuellen Forschungsprojekten zur Wiener Moderne Sie gerade arbeiten?

Unsere Kuratoren arbeiten an unterschiedlichen Projekten, die ich initiiere und vorantreibe.

Permanent läuft bei uns der Bereich des Egon-Schiele-Forschungszentrums. Hier haben wir jetzt z.B. das Gros der Postkarten, Briefe und Gedichte aufgearbeitet. Sie werden ins Englische übersetzt, damit der Diskurs in der Schiele-Forschung auch internationaler geführt werden kann.

Im Rahmen unserer Forschung taucht immer wieder etwas auf. Ich hatte mit einer Kuratorin vor zwei Monaten die Möglichkeit, ein Gemälde von Schiele, das uns bisher nur aus einer Schwarz-Weiß-Abbildung bekannt ist, erstmals im Original zu sehen. Ich enthülle jetzt nicht, um welches Werk es sich handelt, aber es wird eine spannende Geschichte.

Seit kurzem befindet sich auch das Gerstl-Archiv von Otto Breicha im Leopold Museum, mit sehr vielen Dokumenten, die noch direkt aus der Familie Gerstls stammen. Hier gibt es vieles aufzuarbeiten. Wir forschen zudem natürlich bei Neuerwerbungen und permanent zur Provenienz von Werken. Ich selbst arbeite gerade an einem Projekt zu Alfred Kubin. Die Ausstellung wird im März präsentiert. Wir werden uns u.a. mit Hilfe eines Psychoanalytikers, der Kubin sozusagen auf die Couch legt, die psychologische Struktur Kubins erstmals genauer anschauen.

Das Leopold Museum wird in diesem Jahr 20 Jahre „jung“ und hat sich bereits zu einer absoluten Erfolgsgeschichte entwickelt. Wie wird das Jubiläum begangen?

Zum einen gab es eine Festveranstaltung für 200 geladene Gäste. Wegbegleiter, Menschen, die das ermöglicht haben, kulturpolitische Entscheidungsträger, Stiftungsvorstände, ehemalige Direktoren, Mitarbeiter, Künstler, Sponsoren waren dabei, um die Erfolgsgeschichte des Leopold Museum zu feiern. Dann gibt es spezielle Empfänge für die Freunde und Unterstützer. Des Weiteren gab es bereits einen Tag der offenen Tür für alle, mit Sonderführungen und Kinder-Workshops.

Es ist auch eine Jubiläumspublikation mit beinahe 300 Seiten erschienen. Es war mir sehr wichtig, alle Ausstellungen - es sind 119 an der Zahl - zusammenzufassen. Wir wollen zeigen, wie sich die Identität eines Hauses konstruiert. Eine wichtige Säule ist natürlich die Sammlung und die Geschichte des Sammlerehepaars. Wichtig ist dabei auch, welche Ausstellungen gezeigt wurden und welches Profil man sich erarbeitet hat, welche die handelnden Personen und Kooperationspartner sind und wie wir unsere Netze auswerfen. Ich werfe gerne Netze aus und verlinke Philosophen, Psychologen, Musikwissenschaftler oder Architekten, um gemeinsam – ein bisschen in Anlehnung an die Idee des Gesamtkunstwerkes – unterschiedliche Theorien und Meinungen zusammen zu bringen.

Es ist wichtig, dass wir uns die Identität unseres Hauses immer wieder bewusst machen. Auch welchen Beitrag wir in der Identitätsstiftung der Stadt und des Landes leisten.

Zudem machen wir gerade eine ziemlich unkonventionelle Werbekampagne, die ohne Bilder funktioniert, nur mit Schrift. Es ist eine Gefühlskampagne, bei der einzelne Individuen ihre Gefühle und Gedanken nach dem Betrachten von Meisterwerken zum Ausdruck bringen. Sie veranlasst vielleicht, darüber nachzudenken, wie modern und zeitgemäß „unsere“ Künstler sind.

Welchen aktuellen Herausforderungen stehen Museen wie das Leopold Museum gegenüber?

Wir selbst haben eine Herausforderung, die finanzieller Natur ist, weil wir in den letzten Jahren zu über 60 % von unseren Besuchern gelebt haben. Wir hatten 450.000–500.000 Besucher pro Jahr. 2020 sanken die Zahlen auf 120.000–130.000. Nachdem wir von einem 10,5 Millionen Euro Budget nur vier Millionen Euro von der öffentlichen Hand bekommen, dankenswerterweise vom Bund und leider nichts von der Stadt Wien – obwohl wir sehr gute Botschafter dieser Stadt sind –, haben wir gegenwärtig zu kämpfen. Aber wir haben zugleich einen Schatz, zu dem die Menschen zunehmend zurückkehren werden, sobald diese COVID-Krise bewältigt ist.

Ich bin mittlerweile seit 18 Jahren im dritten Haus Direktor und kann sagen, die Anforderungen an die Museen nehmen zu. Wir sind schon lange nicht mehr nur kunsthistorisch gefordert, wir sind Verkäufer und Vermittler, wir müssen Innovationen vorantreiben, Drittgelder von Sponsoren akquirieren, Presse- und Marketingprofis sein und vieles mehr. Es tut sich zudem sehr viel im Bereich der Digitalisierung.

Ich bin überzeugt davon, dass Digitalisierung Leute inspirieren kann eine Ausstellung zu besuchen, dass sie neue Zugänge schafft. Wenn man es intelligent angeht und diesen Infotainment-Aspekt bei der Produktion von Videos über Ausstellungen mitbedenkt, dann kann man auch später Menschen wieder für physische Besuche in den Häusern gewinnen. Denn den Genuss, die Besonderheit, vor dem Original zu stehen und die Aura des Kunstwerks zu genießen, die wird man nie ersetzen können.

Welche Stärken bzw. Besonderheiten zeichnen das Leopold Museum aus?

Es gibt mehrere Stärken, die dieses Haus hat. Eine ist, dass wir wunderbar durch die Sammlung von Rudolf Leopold aufgestellt sind, so dass wir auch international als Leihgeber stark angefragt werden. Dann haben wir eine fantastische Lage im MuseumsQuartier im Herzen von Wien. Wir haben ein junges, engagiertes Team. Ohne Aufsicht sind wir rund 60 Leute, d.h. nicht so ein großer Tanker mit 200 Mitarbeitern. Daher können wir dieses Boot sehr schnell manövrieren. Wir kennen einander, mit dem Team können Sie Pferde stehlen, Projekte realisieren.

Museen sind Orte intensiver Dialoge und Begegnungen. Welche Anforderungen stellen Sie an eine überzeugende Kunstvermittlung?

Wir sind in der direkten Vermittlung sehr breit aufgestellt, da wir unterschiedliche Formate für unterschiedliche Zielgruppen anbieten. Wir machen sowohl spezielle Kunstvermittlungsprogramme von Schülern für Schüler als auch Formate zu Spezialthemen.

Ich verlange von den Kunstvermittlern Enthusiasmus, Engagement und Bewegtheit. Dabei versuchen wir der jeweiligen Gruppe die ideale Vermittlerin/den idealen Vermittler zur Seite zu stellen, soweit man das vorher klären kann. Darüber hinaus machen wir auch Führungen, beispielsweise durch Literaten oder Architekten, damit werden die Themen nochmal aus einer anderen Perspektive beleuchtet.

Welches langfristige Ergebnis Ihrer verantwortungsvollen Museumsarbeit würde Sie innerlich zufrieden stimmen?

Längerfristig betrachtet, muss es das Ziel jedes Museumsdirektors bzw. jeder Museumsdirektorin sein, eine schöne Ausstellungsgeschichte zu hinterlassen. Wichtig ist darüber hinaus die Sammlung mit bedeutenden Ankäufen zu stärken.

Persönlich ist mir sehr wichtig, dass die Atmosphäre im Haus eine gute ist. Dass die Leute Freude haben, hier zu arbeiten, sich hier zu entwickeln.

Zuletzt lief in Ihrem Haus noch die von Ihnen kuratierte und sehr sehenswerte Ausstellung zu Josef Pillhofer. Auf welche weiteren Ausstellungen können sich die Besucher des Leopold Museums demnächst freuen?

Jetzt wird es ganz spannend. Im September eröffneten wir eine Ausstellung über eine unbekannte Sammlung aus Baden bei Wien. Sie stammt von einem Ehepaar, das lange beruflich reiste und die letzten 20 Jahre intensiv Kunst gesammelt hat. Wir inszenieren die Ausstellung als Gesamtkunstwerk, als Entdeckung einer Privatsammlung. Dann folgt die Wittgenstein-Ausstellung und 2022 kommt Alfred Kubin mit seinen künstlerischen Vorbildern in dialogischer Form. Alles Weitere will ich bis zur Jahrespressekonferenz im Dezember noch nicht verraten.

Herzlichen Dank, lieber Herr Direktor Wipplinger, für dieses ausführliche Interview!