1884 publizierte der englische Lehrer und Theologe Edwin A. Abbott mit seiner Novelle Flatland eine allegorische Satire auf den Dogmatismus, deren Protagonisten geometrische Formen sind. Der Erzähler, ein in der zweidimen-sionalen Welt Flatland lebendes Quadrat, berichtet von seinem Aufenthalt in der dreidimensionalen Welt Spaceland. Nach der Rückkehr in seine flache Heimat gelingt es ihm nicht, seine Mitbürger von der Existenz einer dritten Dimension zu überzeugen, da diese schlicht undenkbar scheint und unsichtbar bleibt. Das Quadrat wird zum Ketzer erklärt und eingekerkert. So berichtet es aus dem Gefängnis von seiner Entdeckung und seinem unglücklichen Schicksal.

Nachdem der erste Teil der Ausstellung 2016 im MRAC Occitanie/Pyrénées- Méditerranée im südfranzösischen Sérignan präsentiert wurde, versammelt Flatland / Narrative Abstraktionen #2 im Mudam Arbeiten von rund 20 zeitgenössischen Künstlern und Künstlerinnen, die Abbots Werk gleich in doppelter Hinsicht verbunden sind. Zum einen konstruieren sie Geschichten aus abstrakten Formen, zum anderen könnte man sie, da in ihren Werken die Begriffe „Abstraktion“ und „Narration“ zusammenfinden, aus einer bestimmten kunstgeschichtlichen Perspektive als Häretiker bezeichnen. Tatsächlich ist der Begriff der Abstraktion untrennbar mit der künstlerischen Moderne verbunden, und Abstraktion bedeutete in den bildenden Künsten damals vor allem eine Abkehr von Narration und Symbolik. Die Kombination von „Abstraktion” und „Narration” könnte man leicht als Widerspruch in sich bezeichnen, als unmöglich. Angesichts vieler Werke der Gegenwartskunst erscheint diese Position jedoch heute nicht mehr haltbar.

Weiterhin will die Ausstellung einer der originellsten und paradoxesten Kunstströmungen, die an der Rückkehr der Narration in die zeitgenössische Kunst teilhaben, Sichtbarkeit verschaffen. Die im Rahmen von Flatland / Narrative Abstraktionen #2 präsentierten Werke weisen Bezüge auf Sphären innerhalb wie außerhalb der Kunst auf und konterkarieren die Autonomie einer künstlerischen Sprache, die im Kontext historischer Abstraktionen behauptet wird. Sie erscheinen wie stumme Erzählungen, die auf ihre Aktivierung durch den Betrachter warten. Entlang der Arbeiten von Künstlern und Künstlerinnen aus Europa und den USA skizziert Flatland / Narrative Abstraktionen #2 die Grundzüge einer einzigartigen Strömung und macht gleichzeitig deutlich, wie unterschiedlich ihre diversen Ausprägungen und Fragestellungen sind.