Kunst ist Mathematik. Zu einem nicht unerheblichen Teil jedenfalls. Die Verslehre in der Poesie beweist es ebenso wie das Metrum in der Musik. Im Tanz wissen wir es spätestens seit Oskar Schlemmers Triadischem Ballett. Architekten durchlaufen ein umfassendes Mathematikstudium. In der Fotografie verhelfen bereits ein paar simple kompositorische Ratschläge einem Laien zu durchaus professionell anmutenden Bildern. Mondrian brach seine Umwelt auf Quadrate (genau genommen Vierecke), Dreiecke und Linien herunter. Und selbst Fußballer – wer behauptet hier, Fußball sei keine Kunst? – denken in diesen (Plan-)Quadraten, (Pass-)Dreiecken und (Abseits-)Linien.

Die Menschen hatten lange vor Nicolas Poussin (1594-1665) begriffen, dass die Natur, mithin auch jede Darstellung der Natur, auf mathematischen Gesetzen beruht. Und als er zur Welt kam, hatte Albrecht Dürer (1471-1528) in seinen theoretischen Schriften bereits alles Nötige zur Bedeutung der Mathematik für die Kunst gesagt. Poussin konnte hierin also kein Vorreiter sein. Und dennoch war es sein Auge für das mathematisch-geometrische Substrat der Wirklichkeit, das ihn zu dem unsterblichen Klassiker werden ließ, der er bis heute ist.

Poussin lebte zu einer Zeit, als Frankreich europaweit politisch den Ton angab. Es war das große Jahrhundert des Absolutismus unter Federführung der Kardinäle Mazarin und Richelieu. Man sollte annehmen, damit ginge auch eine kulturelle Vormachtstellung einher. Doch die dominierende Kunstnation dieser Epoche war Italien. Caravaggio, Carracci, Domenichino, Albani oder Bernini waren die Namen der Stunde.

Und so verwundert es nicht, dass Poussin, sobald er seiner außergewöhnlichen Begabung gewahr wurde, nach Italien auszog. Er studierte die großen Meister, fand fern der Heimat jedoch trotz einflussreicher Förderer nicht die Anerkennung, die sein Talent verdiente. Auf Drängen Ludwigs XIII. kehrte er nach Frankreich zurück und wuchs, inmitten der Intrigenspiele der höfischen Welt, zu einem allseits anerkannten Meister des klassizistischen Barock heran. Er malte, ganz klassischer Künstler, fast ausschließlich mythologische Motive.

So auch in seinem Gemälde °Das Urteil des Salomon* (1649). Die Geschichte des Salomonischen Urteils ist weithin bekannt: Zwei Frauen streiten sich um ein Kind und bringen die Angelegenheit vor den König, der die wahre Mutter an ihrer hingebungsvollen Liebe zu dem Kind erkennt, die es eher der Rivalin überlässt, als es zerteilt zu sehen.

Poussin nun übersetzt das klassische Symbol der Rechtsprechung, die Waage, in seine Bildkomposition: Salomon, selbst spiegelgleich durch Licht und Schatten gespalten, thront leicht erhöht im Zentrum eines völlig symmetrischen Raumes, dieselbe Figurenzahl zu beiden Seiten. Die Farben der Gewänder der Frauen finden ein Echo auf der jeweils gegenüberliegenden Seite, ihre Arme markieren die Horizontale, selbst der Schild am linken Bildrand wird durch das Kind rechts aufgewogen. Doch in der Jurisdiktion muss die Waage ausschlagen. Und sie tut es in der Haltung der Frauen – die eine lässt sich willfährig durch die Bilddiagonale zerteilen, die andere scheint sich unter ihr wegzuducken – und der Hände des Königs. Die Komposition neigt sich der linken Bildhälfte zu – oder besser gesagt: der Rechten Salomons, der Seite des Rechtes und der rechtmäßigen Mutter.

In Zerstörung des Tempels in Jerusalem durch Titus (1638-1639) ist es vor allem die Linienführung, die einer Komposition, die sich im Schlachtengetümmel zu verlieren droht, Struktur verleiht. Da das leere Zentrum ihm keinen Halt gibt, sucht das Auge ihn in der Peripherie und stößt auf die Gruppe im linken Vordergrund. Der Schild auf dem Rücken des Soldaten sowie der Blick des knienden Gefangenen markieren zwei Linien eines Dreiecks. Die beiden anderen Gesichter sind gen Titus gerichtet, durch das leuchtende Weiß seines Pferdes als wichtigste Figur des Bildes erkenntlich, der gemeinsam mit seinem Gefolge in ein auf der Spitze stehendes Rechteck eingeschlossen ist. Haltung und Blickrichtung der Gruppe lenken die Aufmerksamkeit des Betrachters über die Bildmitte weiter auf die klare, klassische Architektur des Tempels. Die geometrische Tiefenstruktur schafft Ordnung, wo sie oberflächlich zu fehlen scheint. Zugleich überwindet auch dieses Gemälde die Statik des Mediums, indem es uns dynamisch von den Besiegten zum Sieger und schließlich zum Objekt der Eroberung führt.

In seinem unvollendeten Spätwerk Apollons Werben um Daphne (1664) zeigt sich eine andere Seite Poussins. Lange Jahre hatten die Figuren, die die Werke bevölkerten, sprichwörtlich im Mittelpunkt seiner Kompositionen gestanden. Nun, im hohen Alter, rückte Poussins Fokus hin zur Landschaft in all ihrer ehrfurchtgebietenden Urgewalt und Weite.

Die Figuren sind in einem Halbkreis angeordnet, um den Blick auf den im Zentrum aufscheinenden, baumumkränzten Horizont freizugeben. Erst dann wird der Betrachter ihrer selbst gewahr und verliert sich unverzüglich in einem Blickgeflecht, das ihn von der im Baum sitzenden Nymphe über die beiden Nymphen rechts und Apollon links schließlich zur in den Armen ihres Vaters Peneus liegenden Daphne führt. Einmal mehr geben geometrische Elemente einen Mythos wieder. Sie erzählen die Geschichte des Bannes des Eros, des vergeblichen Werbens des unsterblich verliebten Apollon um die hasserfüllte Daphne und seines tragischen Endes: der bedingungslosen, ewigen Hingabe Apollons zur baumgewordenen Daphne.

Poussin konnte das Bild nicht fertigstellen, weil er 1665 verstarb. Er hatte offenbar vorausgesehen, dass auch er sich bald der unvergänglichen Macht der Natur würde beugen müssen – der unvergänglichen Macht jener Natur, deren mathematische Grundeinheiten sein Genie in zeitlose Meisterwerke zu verwandeln wusste. Poussin trug diese gestalterische Basis seiner Kunst nicht nach außen wie ein Dürer und um ein Mondrian zu sein, war es rund zweieinhalb Jahrhunderte zu früh. Doch seine Bilder sind ohne ihre Rückübersetzung in geometrische Figuren nicht zu verstehen. Kunst ist eben auch Mathematik. Und Poussin gerade deshalb ein Klassiker.

Autor: Arik Jahn

Quellen:
Bätschmann, Oskar: Dialectics of Painting, London: Reaktion Books 1990. Clark, Kenneth: Landscape into Art, London: John Murray 1973. Grautoff, Otto: Nicolas Poussin, New York u.a.: Parkstone International 2015.